Sie bilden eine Art Grenzort, einen Übergang zwischen dem Garer Quartier und Bonneweg. Treffend, da die Rotondes sich an den Gleisen des Bahnhofs befinden. Derzeit finden die Congés annulés statt und nehmen die Zuhausegebliebenen auf dem Parvis auf, servieren ihnen internationalen Indie-Rock, Lokal-Elektro und kaltes Bier. Im Moment reflektieren die Rotondes ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart im Rahmen der Fotografie-Ausstellung Les Voyeuses. Denn auch wenn die Institution heute selbstverständlich wirkt, war es ein durchaus langer Prozess, die beiden Rundbauten in ein Kulturzentrum zu verwandeln.
Neben dem Bahnhofsgebäude gibt es in der Hauptstadt kein weiteres Industriegebäude, das unter Denkmalschutz steht. Die meisten befinden sich (logischerweise) im Minett. Rundlokschuppen wie die Rotondes wurden weltweit im Zuge des 19. Jahrhundert als praktische Lösung für Bahnhöfe gebaut, um ihre Dampflokomotiven und Züge zu lagern. Die in Bonneweg wurden 1875 aus natürlichem Stein und Metall errichtet, mit einem Außendiameter von 52 Meter. 15 Meter sind sie hoch, mit einer großen Drehscheibe und Platz für 18 Lokomotiven. In den 60-er Jahren wurden sie als Lagerhallen für Busse und als Atelier für die CFL genutzt. In den 80er-Jahren echauffierten sich Grüne über die in ihren Augen überzogene Welle an Abrissarbeiten in der Hauptstadt. Stoppt de Bagger Asbl. hieß eine Initiative der späteren Grünen-Abgeordneten Renée Wagener und des Woxx-Mitbegründers Richard Graf, die 1987 einen Antrag stellten, um die Rotondes zu schützen. Man könne nicht alle Gebäude erhalten, erklärte das Kulturministerium noch 1989. Zwei Jahre später sollten die beiden Rotunden unter Denkmalschutz stehen.
„Wir wissen bis heute nicht, wie das zustande kam. War es ein anarchistischer Bürokrat, der im Ministerium die beiden Bauten in die Regelung schrieb – oder hat Jacques Santer (damaliger CSV-Premier und Kulturminister, Anm.d.Red) sich doch im letzten Moment umentschieden?“, sagt Robert Garcia, ehemaliger Grünen-Abgeordneter im Gespräch mit dem Land. Er wurde über die darauffolgenden Jahre zur prägenden Figur des Areals. Auch, weil er beseelt davon gewesen sei, „wie die Stadt den Bach hinuntergeht“. Nach Diskussionen um eine mögliche Nutzung als zeitgenössisches Museum (einer Alternative zum „Pei-Museum“), schrieb das Ministerium einen Ideenwettbewerb aus: Disko, Planetarium, Architekturmuseum wär doch schön, dachten sich manche. Dann schlief das Projekt wieder ein. Im Februar nach der Jahrtausendwende übergab der CFL-Direktor René Streff die Schlüssel an Erna Hennicot-Schoepges, CSV- Kulturministerin. Es bahnte sich ein Großevent an, das Europäische Kulturjahr.
„Erfahrungsgemäß passiert immer etwas, wenn es eine Deadline gibt und niemand sich die Blöße geben will, nichts Anständiges auf die Beine gestellt zu haben“, sagt Garcia. Als er 2003 zum Koordinator für die Europäische Kulturhauptstadt 2007 ernannt wurde und weder die Rockhal noch das Neimenster einsatzbereit waren, rief er Jeannot Waringo an, den Präsidenten des Verwaltungsrats der CFL. Letzterer sei wenig enthusiastisch gewesen, habe jedoch zugehört. Nachdem Garcia mit einer Jugend- und Kinderprogrammierung in der zweiten Rotonde an Waringos „Tränendrüse“ appelliert habe, sei er einverstanden gewesen. Die Busse wurden im Oktober 2006 anderswo untergebracht, am 6. Dezember ging es mit den Veranstaltungen los. Großer Erfolg, helle Begeisterung.
„Mein Prinzip lautet: Wenn du jemanden nicht bekämpfen kannst, musst du ihn umarmen“, erklärt Robert Garcia. Das kann durchaus als eine allgemeine Maxime der Grünen nach den 90er-Jahren verstanden werden. Doch im Gegensatz zu Projekten wie der Tram gab es wenig Gegenwind beim Kulturzentrum. Es stand weniger auf dem Spiel. 2007 mussten die Rotondes aufgrund von Sanierungen nach Hollerich umziehen, das Carré Rotondes sollte lediglich drei Jahre bespielt werden. Die Finanzkrise und Personalwechsel in den Ministerien verlängerten diese Phase, sodass die Rotondes asbl. erst 2015 aus dem Paul Wurth-Gebäude zurück nach Bonneweg konnte. Im darauffolgenden Jahr wurde Steph Meyers Direktor; seitdem haben mehr als eine halbe Million Menschen das Kulturzentrum besucht.
Die nächste Phase in der Geschichte der Rotondes beginnt Anfang nächsten Jahres. Das Architekturbüro Teisen-Giesler hat die Pläne für die Renovierung konzipiert. Dabei erkennt Lisi Teisen in den letzten Jahren einen Mentalitätswechsel, was den Denkmalschutz angeht. „Man geht anders mit den verschiedenen historischen Ebenen im Bau um.“ Die Gebäude seien besonders für den städtischen Raum wertvoll und „wichtige Zeugen von Geometrie“, die spürbar bleiben müssten. „Es gab eine Tendenz zu zer-renovieren. Heute ist ein Umdenken erfolgt und es gilt die Prämisse, stärker mit dem Bestand zu arbeiten.“ Die erste Bauphase betrifft die Rotonde 1, sie wird Ende 2024 geschlossen und akustisch renoviert, Logen und einen Lagerbereich kommen hinein. Die Hauptarbeiten an der Rotonde 2, die in der zweiten Phase stattfinden, sollen (und müssen) im Einklang mit der Eisenbahngeschichte sein. Vier Stockwerke, ein überdachter Außenbereich, der in der Winterzeit als Verlängerung des Parvis fungiert; mehrere Workshopräume und multidisziplinäre Zimmer wurden vom Architekten-Duo vorgesehen. In der dritten und letzten Phase der Baustelle werden der Parvis und das Pavillon renoviert. Steph Meyers wünscht sich, dass die Rotondes verstärkt ein Ort sein werden, an den man einfach hingeht, ohne ein spezifisches Event im Kopf zu haben. Am Ende dieses (voraussichtlich) vierjährigen Umbaus können doppelt soviel Gäste empfangen werden.
2018 erreichten die Rotondes erstmals über 100 000 Besucher/innen, wenn man die Fussball-Public Screenings und das Marionettenfestival mitzählt – 73 000 ohne diese Events. Nach dem pandemiebedingten Einbruch kamen letztes Jahr wieder rund 70 000 Menschen. Eine Veränderung sieht Steph Meyers in der planerischen Unvorhersehbarkeit, die seit 2020 beim Publikum eingetreten ist. Wusste das Team vorher noch, wie viele Gäste für ein Event zu erwarten waren, ist heute bis am Abend selbst nicht klar, wie viele erscheinen werden. Die Spontanität hat zugenommen, die Last-Minute-Entscheidungen, die oftmals wetter- und launeabhängig sind. Auch gibt es mehr „Fernbleiben“, was dazu führen kann, dass ein Viertel der Stühle bei ausverkauften Veranstaltungen leer bleiben.
Auf den Konzerten besteht das Publikum meist aus Angehörigen der bildungsnahen, kultivierten Mittelschicht. Wenn es um die Chancen und Möglichkeiten der Programmierung geht, vor allem, was die soziale Durchmischung angeht, gibt niemand sich allzu idealistisch. „Es ist unwahrscheinlich, dass wir den 50-jährigen Kapverdianer aus der Nachbarschaft anziehen“, sagt Steph Meyers. „Doch seine Kinder, die auf die Hip-Hop-Workshops kommen, erreichen wir eher.“ Er gibt zu, dass es bisher noch nicht gelungen ist, die Nachbarschaft zu integrieren. Durch Events wie das Public Screening der Europa- und Weltmeisterschaften würden zwar auch Menschen, die sich sonst nicht in Kulturinstitutionen begeben, eingebunden, doch dies setze ein sehr breites Kulturverständnis voraus.
„Die meisten Menschen, die finden, die Rotondes seien bobo, sind es selbst. Ich bin auch ein Bobo, ich habe kein Problem damit“, sagt Steph Meyers. „Die Leute, die diese Kritik üben, kommen tendenziell nicht zu anderen Events.“ Ein paar Schritte in Richtung Bonneweg und man findet einen Bioladen, Naturkleidung für Kinder und die Bouneweger Stuff. „Le centre culturel est appelé à participer activement au développement culturel, socio-éducatif et économique du territoire de la région dans laquelle il est implanté. Il tient compte des réalités sociodémographiques d’un territoire en mouvance”, heißt es in der Konvention der Rotondes Asbl. mit dem Kulturministerium aus dem Jahr 2015. Im Gesetz vom letzten Jahr, das die Rotondes als établissement public definiert, werden seine Missionen aufgelistet. Unter anderem sollen Veranstaltungen stattfinden, die die soziokulturelle und kulturelle Programmierung begleiten und „im Gleichklang mit der Evolution des Publikums“ sind. Außerdem solle der Ort ein „Lebens- und Begegnungsort“ werden, in dem verschiedenartige Menschen verkehren.
Großes Ziel ist es für die kommenden vier Jahre, sich mehr mit der Bonneweger und Garer Nachbarschaft zu vermischen. Steph Meyers spricht von einer „integrativen“ und vielschichtigen Herangehensweise. Brücken zu schlagen etwa, zwischen verschiedenen Programmpunkten, zum Beispiel einer Ausstellung und einem Konzert – dann könnten sich verschiedene Gäste vermischen. Das sei dem Team in der Vergangenheit punktuell gelungen. Einige Events werden während den Renovierungen außerhalb des Areals stattfinden, wo genau wird noch nicht kommuniziert. Das könnte das wortwörtliche „Outreach“ darstellen. Lisi Teisen erklärt, auch Architektur könne dazu beitragen, einen Ort niederschwellig zu gestalten. Sieht er von außen unzugänglich, gar elitär aus – oder einladend und inklusiv? Für die Renovierungen sei es Rolf Giesler und ihr wichtig gewesen, dass auch jemand, der nicht in Architektur bewandert ist, die Geschichte der Rotonden mit bloßem Auge erkennen kann.
Die Grenze verläuft allerdings nicht nur zwischen Arbeitern und Mittelstand. Es sticht ins Auge, wie nah die Gentrifizierung an der Verelendung liegt. Man muss nur die Rocade hinauffahren, um bei der Fixerstuff Abrigado zu landen. Auch das unmittelbar umherliegende Bahnhofsviertel ist ein sozialer Brennpunkt. Dieser Kontrast ist keine Besonderheit von Luxemburg, in vielen Städten stehen Penthäuser von reichen Investoren neben Drogenabhängigen. Der Gang der Dinge, wenn einst sozial schwache Nachbarschaften gentrifziert werden.
Die Rotondes sind, nachdem die Rue de Hollerich im vergangenen Jahrzehnt mehr oder weniger eingeschlafen ist, der einzige halbwegs alternative Ort der Stadt. Wenn man „alternativ“ grob definiert. Leere Flächen, in denen Kreative und Kulturschaffende ohne Gelddruck Neues gestalten können, sich kleine Mikrokosmen bilden, gibt es in der unbezahlbaren, gründlich durchpolierten Stadt nicht. (d’Land, 26.8.2022) Dass Kultur in Luxemburg derart bezuschusst wird, ist ja eigentlich Grund zur Freude. Und trotzdem dürfte die Verstaatlichung der Institutionen auch für den gefühlten Mangel an Dynamik verantwortlich sein. In der Hauptstadt gibt es sie nicht, die wahrhaftigen tiers-lieux culturels.