Ein „verdächtiger Gegenstand“ ließ die Eröffnung platzen. Polizei marschierte allerdings nicht deshalb auf, weil einzelne Exponate durchaus zweifelhaft sind – sondern wegen einer Sprengstoff-Warnung. Nach dem Fehlalarm konnte Winfried Kretschmann die Große Landesausstellung Baden-Württemberg ‘24 dann doch einweihen. Wie andere Prominenz will auch der erste und vorerst letzte grüne Ministerpräsident das Jubiläum 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau heuer noch öfters beehren. Er sieht auf dem Eiland im Bodensee nicht frommen Hokuspokus am Werk, sondern „die Wiege des Wissenschaftsstandorts Deutschland“.
Wenn die Gegenwart schwierig, die Zukunft unsicher ist, wird gerne Glanz und Gloria des Mittelalters beschworen. Da lässt Kaiser Wilhelm II. schon mal den Bahnhof Metz als Ritterburg erbauen, berufen sich unberittene Bürokraten auf Jeanne d‘Arc, kramen ungarische Kommunisten die Heilige Stephanskrone hervor. Ein paar Intellektuelle mögen über Inszenierung und Instrumentalisierung lamentieren; das Publikum fühlt sich vom Mëttelaltermoart ganz gut unterhalten.
Die „Großen Landesausstellungen“ Baden-Württembergs wurden 1977 von Ministerpräsident Hans Filbinger erfunden. Der CDU-Rechtsaußen meinte, das erst 25 Jahre zuvor aus disparaten Teilen zusammengeschusterte Bundesland brauche historisches Bewusstsein. Außerdem hatte er Ärger mit RAF-Terroristen, AKW-Gegnern und anderen Langhaarigen. Heino-Schallplatten mit der deutschen Nationalhymne, die Filbinger an Schulkinder verteilen ließ, fanden kaum Resonanz. Eine „Staufer“-Schau schlug dagegen derart ein, dass seither rund 80 weitere Landesausstellungen veranstaltet wurden – in manchen Jahren bis zu fünf gleichzeitig. Die größten Blockbuster waren bisher allerdings nicht Mittelalter-Themen, sondern Impressionisten, Mumien und Dinosaurier.
Der irische, vielleicht auch französische Wanderbischof Pirmin, später angeblich im Saarland begraben und jedenfalls heiliggesprochen, soll anno 724 die größte Bodensee-Insel von Natterngezücht befreit haben, um ein Kloster zu gründen. Es gibt keinen Beleg dafür. Das ist aber kein Grund, keinen Geburtstag zu feiern: 1300 ist eine runde Zahl. Und wenn der Egbert-Schrein aus Trier, Elfenbein-Reliefs aus dem Louvre, der allerälteste Wetterhahn aus Brescia und andere kostbare Leihgaben zusammenkommen – dann ist das einfach schön.
Die Hauptattraktion der Ausstellung, die das Badische Landesmuseum nun im Archäologie-Museum in Konstanz zeigt, sind rund 80 Handschriften aus dem Reichenauer Skriptorium. Randbemerkungen zu den lateinischen, meist religiösen Texten zählen zu den ältesten Zeugnissen der deutschen Sprache. Die prunkvollen Buchmalereien sind sonst in aller Welt verstreut und lichtgeschützt in Tresoren weggesperrt.
Das Liuthar-Evangeliar aus dem Aachener Domschatz ist während der gesamten Ausstellungsdauer zu bestaunen. Vier weitere ottonische Prachthandschriften, ebenfalls Unesco-Weltdokumentenerbe, werden nur zeitweise präsentiert. Mit einer Sondergenehmigung des italienischen Kulturministeriums reist der einst für Trier gefertigte Egbert-Psalter an. Die Zürcher Zentralbibliothek hat das Reichenauer Verbrüderungsbuch herausgerückt, eine Art Facebook des Mittelalters mit 38.000 Einträgen aus ganz Europa. Der St. Galler Klosterplan ist dagegen bloß in Kopie zu sehen.
Christliche Traditionen sind heute vielen Museumsbesuchern so fremd wie Papua-Rituale. Wozu braucht man Reliquien, was ist eine Perikope, was ein Graduale? Tapfer versuchen Multimedia-Guides, Podcasts und 3D-Rekonstruktionen, in die exotische Welt der Benediktiner zu führen. Die Bestseller-Autorin Tanja Kinkel hat zur Ausstellungs-App ein Hörbuch beigesteuert. Playmobil-Figuren bringen Kindern den Alltag im Kloster nahe. Mit Historiker-Diskussionen, ob die Karolinger-Zeit überhaupt jemals stattgefunden hat, wird man dagegen nicht behelligt. Immerhin wird erwähnt, dass die Reichenauer Schreibwerkstatt einst Europas Machthabern außer prächtigen Bibeln auch gefälschte Urkunden lieferte.
Städte, Universitäten und Buchdruck brachen das Wissensmonopol der Mönche. Ihr Kloster wurde 1540 an den Konstanzer Bischof verschachert, später ganz aufgelöst. Bis heute erhalten sind auf der Reichenau drei berühmte romanische Kirchen, eine funkelnde Münster-Schatzkammer und urige Vornamen wie Bero, Hatto oder Witigowo. Zu den drei Insel-Feiertagen treten in diesem Jubiläumsjahr nicht nur Bürgerwehr und Trachtenfrauen an, sondern auch auswärtige Würdenträger. Den Festgottesdienst zu Mariä Himmelfahrt am 15. August soll Kardinal Jean-Claude Hollerich SJ aus Luxemburg zelebrieren.
Als nächste Großausstellung ist ab Oktober in Stuttgart „500 Jahre Bauernkrieg“ geplant, samt der landesweiten Roadshow „Uffrur! Utopie und Widerstand“ und „Zoff!“, einem Mitmach-Event für Kinder. Falls das Spektakel nicht doch lieber wieder abgeblasen wird. Das Landvolk ist gerade etwas unruhig, die Politik nervös - und die Vergangenheit könnte auch Revoluzzer inspirieren.