Die kleine Zeitzeugin

Rund um die goldene Geschwulst

d'Lëtzebuerger Land vom 16.12.2022

Als Kind wurde ich einmal in ein Fußballstadion verschleppt, von meinem Fußballonkel und seiner Fußballfamilie. In einer kleinen Stadt mit einem kleinen Fußballstadion. Ein vollkommen unverständliches Unterfangen erwartete mich, ohne Sinn und Zweck, außer dem blöden Ball und etwas was sie Tor nannten. Diese Toren. Es waren die endlosesten, zähesten Stunden meines bisherigen neunjährigen Lebens, eine Ewigkeit der Verdammnis, wie Zahnarzt und Rechenstunde, wie das damals noch hieß, zusammen. Keine Erlösung in Sicht, so vollidiotisch wie das Gerangel meiner Brüder. Nur waren es lauter Erwachsene. Bis wieviel geht es? entfuhr es mir irgendwann aus der Tiefe meiner gequälten Seele, das fanden dann alle lustig und es wurde zum familiären Running Gag, wie man damals noch nicht sagte.

Das Einzige, was mich wirklich interessierte war, ob alle Spieler O-Beine hatten wie mein Onkel. Es hieß, seine O-Beine kämen vom Fußballspielen, und durch diese O-Beine wiederum würde er besonders gut Fußball spielen. Es gab wirklich viele O-Beine auf dem Fußballfeld. Jetzt gibt es die überhaupt nicht mehr, im globalen Kontext in dem ich mich jetzt bewege. Ich weiß nicht, ob das eine lokale Besonderheit war, ob vielleicht alle miteinander verwandt waren? Ansonsten interessiere ich mich jetzt für viel mehr. Zum Bespiel für die Farben. Für die Trikotfarben, für die Hautfarben, für die Farben der Fahnen, welche Spiele überhaupt am farbenprächtigsten sind.

Ist meine zwar nicht empirisch abgesicherte These, dass die buntesten Mannschaften mit den powervollsten Trikots gewinnen, haltbar? Die bleichen polnischen Polen in ihren bleichen Shirts mussten sich zum Beispiel den schwarzen rotweißblauen Franzosen geschlagen geben, die schwerfälligen Deutschen, auch noch dramatisch unbegabte Pantomimen, mussten sich in ihrer Weiß-schaut-so-sauber-aus-Kluft bald trollen. Wer zieht denn im Krankenbruderlook in den Kampf? Es sei denn, man plant, den Feind zu narkotisieren?

Senegal führt in meiner Top-Liste, mit einer Fahne, beinahe so schön wie die von Kurdistan mit der strotzenden Sonne. Nur gibt es Kurdistan leider nicht. Noch nicht. Mein Lieblingsspiel bisher war Ghana gegen Südkorea, die flammenden Trikots der Ghanesen, die Südkoreaner mit ihren präzise geschnittenen Gesichtern und Gesten. Die mit Überschallgeschwindigkeit flitzenden Japaner mit ihren magistral verzerrten Antlitzen, wie auf alten japanischen Holzschnitten, wie konnten die Kroaten in ihren albernen Trikots sich erdreisten sie zu schlagen? Und jetzt haben die verloren, obschon sie die lächerlichen Trikots ausgetauscht hatten, gegen die fadeste Mannschaft der ganzen WM. Die blassen Argentinier in ihrer blassen Gefängniskluft, mit himmelblauen einschläfernden Gitterstäben als Deko, die Argentinier sind so mehlwurmfarben als würde ihnen das Licht des Tages nur ausnahmsweise und in Notrationen gewährt. Und trotzdem haben sie gewonnen. Zumindest halb.

Das allerallerbeste aber sind die Hymnen. Auch wenn ich bei den meisten Sängern die Hingabe vermisse, aber sie sind ja keine Heintjes, falls jemand sich erinnert, engagiert um alten weißen Frauen ein Schloss zu singen. Noch nicht mal Sängerknaben, genau so wenig wie Missionare des Regenbogens. Alle Bedürfnisse können nicht mal potenzielle Meister der Welt erfüllen! Am meisten vermisse ich aber das Spucken, Schimpfen, Fluchen, Beten, gerotzt wird nur nebenbei, nicht inbrünstig, für all das werden sie offensichtlich nicht mehr gebucht. Keinen einzigen sah ich, der sich vor Allah auf den der Wüste aufgezwungenen Rasen geschmissen hätte, ab und zu schlägt einer sparsam das Kreuz. Das Drama ist nur noch light, es reicht nicht mal für Trigger-Warnungen. Die Spieler sind jetzt so kompatibel. So umgänglich. So entschärft. Nett zu den Gegnern, tätscheln sie beruhigend mitten im Kampf. Sorgen sich samaritermäßig um die Gefallenen aus dem Feindeslager.

Und all das spielt sich um eine goldene Geschwulst in einer goldenen Suppenschüssel ab, wie mit Gleitgel schleimt sich dieser Triumph-Tumor, dieser Katar-Klumpen in unser Traumauge. Gar nicht schön.

Michèle Thoma
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