Die kleine Zeitzeugin

Kunst oder Leben?

d'Lëtzebuerger Land vom 18.11.2022

Die meisten von uns mäkeln herum, sie finden das derzeit unter medial maximaler Aufmerksamkeit stattfindende Kunst-Happening nicht wirklich gelungen, wir verteilen die Note Ungenügend an die Letzte Degeneration. Thema Verfehlt. Die vorherigen Degenerationen waren da schon andere Kaliber. Ketteten sich an Atomkraftwerke und machten halsbrecherische waghalsige Dinge, nicht so ein Fingerfarben-Kita-Zeug. Nicht so ein therapeutisches Mit-Essen-Rumschmeißen aus dem antiautoritären Frühstadium. So ein Waldorf-Revoluzzer*innentum. Es sei destruktiv, murren die einen, es sei nicht mal destruktiv, murren die andern. Die Aktion sei ein bisschen egalwas, murren wir Großen, Greisen, so als hätte bei der Vollversammlung die Vorsitzende der Rauchenden Schädel lastminute mit ermatteter Stimme gefleht: Hat noch jemand eine Idee? Ja, und gut, irgendwer hatte.

Die Kunst also. Diese Heilige Kuh des Bildungsbürgertums, das es nur noch im Tatort gibt, die meisten haben aber eine Mini-Dosis abbekommen, Klimt küsst auf Schlüsselanhängern, Niki de Saint Phalle belebt beleibt die kalten Kulissen des Kapitals, einst hing Vasarely bei jedem luxemburgischen Zahnarzt. In grauen Krankenhauskorridoren leuchten Van Goghs ewige Sonnenblumen, wer je Wochen lang an einem solchen Ort eingesperrt war, weiß, wie bedürftig man selbst vor einer millionenfach reproduzierten Sonnenblume stehen kann.

Und dann natürlich das Kunstwerk passend zum Design in der Wohnlandschaft, macht sich doch gut, oder? Die Kunst als das Distinktionsmerkmal der Reichen, wer alles hat, Mobilien und Immobilien, herzeigbare menschliche Trophäen, möchte dieses Mehr zeigen, er oder sie will kein*e kapitalistische*r Barbar*in sein. Den Geschmack. Die Sensibilität. Das Menschsein. Weil ja, auch Reiche sind Menschen. Und auch in ihnen ist die Sehnsucht. Danach.

Nach der Kunst. Dort, wo wir uns am nächsten sind, wo wir am meisten bei uns sind. Dort, wo wir gar nicht mehr fragen, ob es Kunst ist. Wo das geschieht. Wo etwas, was auch immer, etwas mit uns macht. Uns lebendig macht. Das zertrümmerte Eis, von dem Kafka schreibt. Energetisch aufgeladen gehe ich aus einer Nolde-Ausstellung, die Bilder vibrierten. Aus Corsage mit Vicky Krieps. Aufgepeitscht und erschlagen zugleich aus einer Jelinek-Aufführung. Bei mir ist das Zeichen Gänsehaut, ein elektrisches Sträuben der Haare. Kunst ist einfach Leben. Wie banal, und wie unumstößlich.

Und gerade diese Einheit soll jetzt ein Widerspruch sein? Kunst oder Leben? Kunst gegen Leben? Das leuchtet den meisten nicht ein. Vor dem Burgtheater in Wien deponierten einst Landwirte Mistfuhren als Kommentar zu Heldenplatz von Thomas Bernhard, im Nachhinein gesehen erscheint dieser nazidurchseuchte Aktionismus beinahe als Huldigung an Bernhard. Ganz schön herausfordernd diese Mistinstallationen! Im kollektiven Gedächtnis Europas sind Bücherverbrennungen und Bilderstürme eingespeichert, die Unantastbarkeit der Kunst hat einen hohen Stellenwert, die Cancel-Culture-Debatten haben es gezeigt.

Wie weh würde es mir tun, wenn jemand Frida Kahlo, nimm das, Frida!, eine Pampe ins Antlitz schmeißen würde? Den Selbstportraits von Soutine? Den staunenden Blütenkelchen von Georgia O’Keeffe? All dieser Kunst, die uns die Schönheit zeigt, aber auch den Abgrund, manche tanzten über ihm, damit er sie nicht verschluckt.

Nicht wirklich. Nicht wirklich. Es geschieht nicht wirklich was. Es ist nur symbolisch. Die Aktivist*innen, ihre Sprecherinnen im TV sind meist wortgewandte junge Frauen, oft aus gutem Hause, wie eine Journalistin lobend erwähnte, betonen beteuern es sei nicht gegen die Kunst gerichtet, das Bild sei kein Feindbild. Gegen überhaupt niemand. Sie wollen niemand und nichts weh tun, nicht der Kunst, niemand. Sie wollen nur das was derzeit als höchstes Gut gilt, den ersten Platz im Aufmerksamkeitsranking.

Während Politiker*innen grüne Teufel*innen an die Wand malen, von RAF und GAF faseln und ihre Anhängerschaft in eine berechnende Paranoia hinein. Während die jungen Klimaschützer*innen auf dem apokalyptischen Horrortrip sind. Die Alten können sie offensichtlich nicht erlösen und schütteln nur die Köpfe.

Michèle Thoma
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