Die kleine Zeitzeugin

Hast du Kim de L’Horizon schon gelesen?

d'Lëtzebuerger Land vom 09.12.2022

Nein, leider nicht, es, das Buch, es liegt in der Buchhandlung, so etwas gibt es noch, hin und wieder, und hin und wieder gehen solche wie ich, Komische, hinein und treiben dort Komisches, Analoges, das Buch also wartet auf mich und wartet. Ob ich nach dem verzauberten Durchblättern es käuflich zu erwerben trachte und es analog in meine Höhle schleppe um mich drin zu versenken zu versinken unterzugehen und aufzutauchen als eine Verwandelte. Das wäre es, das ist es, was denn sonst? Literatur, für Peter Handke Ermöglicherin von „Verwandlung… ein Umschwung ins Höhere und Offene“, wie in der Obstdiebin beschrieben, und nein, ich habe Die Obstdiebin nicht gelesen, und auch nicht Das zweite Schwert und nicht Mein Tag im andern Land: eine Dämonengeschichte, nur mit den Handke-Titeln der letzten Jahre die ich alle lesen wollen würde, eigentlich, könnte ich meinen Artikel füllen. Ich zitiere nur die Literatur-Würdigerin Katja Gasser, die Handke zitiert. So schnell kann ich ja gar nicht leben oder gar nicht lesen wie Handke schreibt. Besonders wo ich Peter Handke extra langsam lese, ich lasse ihn mir auf der Zunge zergehen. Nicht wie eine Hostie, nein, das wäre dann doch übertrieben. Aber wie etwas Essenzielles. Um all diese Essenz aufzunehmen, brauche ich nicht Zeit, ich brauche Zeitlosigkeiten. Handke schreibt so intensiv konzentriert, dass man erschöpft sein müsste. Ist man aber nicht. Erquickt ist man. Wie bei Jelinek. Auch sie mit ihren Wortkaskaden ist so eine Kraftquelle. So ein Kraftwerk, wie ein Stück von ihr heißt. Allzu hohe Dosen verkrafte ich zwar auch wieder nicht, der Energielevel ist zu hoch. Wie bei einer starken Droge, einem hochdosierten Medikament. Die besten Bücher lese ich nicht. Sie sind so gut, dass man sie gar nicht aushält. Man ist so schnell satt, aber man hat sie nicht satt.

Und Annie Ernaux habe ich auch noch nicht gelesen. Doch, ein paar Sätze, sie waren arg nackt und sprachen nackte Wahrheit, ich erbat mir Bedenkzeit. Ich bin noch bei Orhan Pamuk, auch mal Nobelpreis, vielleicht erinnert sich jemand, Schnee, ich bin durch diesen Schnee in der Buchhaltersprache gewatet weil er mir die Türkei erzählte, ich wurde unterbrochen, das ist mehr als zehn Jahre her. Immer werde ich beim Lesen vom Leben unterbrochen. Das Leben platzt mir immer ins Lesen. Bei Luxemburgensia komme ich auch nicht mehr hinterher, schließlich gibt es in Luxemburg beinahe so viele Autor*innen wie Autos, richtig gute auch noch, ich müsste ein Leben nur für Luxemburgensia reservieren. Anéantir habe ich noch nicht gelesen. Noch nicht mal reingeschaut. So schnell kann ich gar nicht leben oder lesen wie Houellebecq uns vernichtet. Und die neueste ukrainische Kriegsliteratur kenne ich auch nicht. Menasse hat auch schon wieder ein Buch geschrieben. Alle schreiben andauernd Bücher. Man muss irrsinnig schnell sein, um sie zu erwischen, das Ablaufdatum ist morgen, Ewigkeit abgesagt.

Ich komme nicht mal dazu, die Neuerscheinungen der Saison, die sich in den Buchhandlungen, in denen sich immer häufiger lustige Tassen und Accessoires zwischen die Belletristik drängen, all die Schinken, Schwarten, Ziegeln aus ihren festgeschweißten Safes heraus zu operieren. All die tausend Namen nie gehörter Autor*innen mit einem uniformen Bestseller-Etikett. Die kredenzte Buchstabensuppe schmeckt erstaunlich ähnlich, es scheint ein allgemein kompatibler Geschmack zu herrschen. Wie bei Fast-Food. Einfache Sprache. Die Königin der einfachen Sprache, die anscheinend, welch eine Verleumdung, die Sprache der Millenials ist, ist Sally Rooney die Bücher schreibt mit Titeln wie Normal People. Ein Hörbuch würde sich anhören wie die Wiedergabe eines Films bei einem TV-Gerät mit Einstellung für Menschen mit Sehbehinderung.

Und wo ist jetzt Boum von Lisa Eckhart, die nicht in schlichter Sprache schreibt, da wollte ich doch auch noch reinschmökern? Eben noch aufgetürmt im Eingangsbereich zwischen der Herbst-Deko, schon verdrängt von Weihnachtselchen und großformatigen Bilderbüchern mit Josef und Maria on the road. Die wenigstens halten die Stellung.

Michèle Thoma
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