Kontroversen gehören immer mehr zu Filmfestivals dazu: Lautstarke Proteste begleiteten Woody Allens Auftritt am roten Teppich während der 80. Mostra di Venezia, der seinen neuen Film Coup de chance außer Konkurrenz vorstellte. Die Künstlerbiografie des Musikers Leonard Bernsteins, Maestro, war kurz dem Vorwurf des „Jew facing“ ausgesetzt; die Maskenarbeit des Films akzentuiere besonders die Nase des Hauptdarstellers Bradley Cooper, um sein Erscheinungsbild mit künstlichen Mitteln jüdischer wirken zu lassen. Am Lido entfachte ferner kurz eine hitzige Debatte, die der italienische Schauspieler Pierfrancesco Favino anzündete, indem er behauptete, Michael Manns Ferrari wäre Ausdruck kultureller Aneignung; nur ein italienischer Schauspieler habe in die Haut des ehemaligen Rennfahrers und Sportwagenunternehmers zu steigen. Eine ganz unnötige Aussage, negiert er damit doch schlicht das Wesen der Schauspielkunst.
Außer Konkurrenz standen vor allem drei Filmemacher besonders im Fokus des diesjährigen Filmfestivals. Woody Allen kehrt mit Coup de chance wieder zu seinen früheren Filmen zurück. Seine vorerst als romantische Komödie angelegte Erzählung unterfüttert er zusehends mit einer kriminalistischen Handlungsführung – diese Struktur lässt sich schon aus dem Wortspiel des Filmtitels ableiten, der allerlei Assoziationen zulässt: Eine Geschichte rund um Schicksal, Zufall, Glück – und Schüssen. So wie Allen an die Erfolgsmuster seines bisherigen Schaffens anknüpft, so sehr scheint sich Roman Polanski in The Palace verirrt zu haben. Ohne Fokus reiht er in dieser skurrilen Komödie um eine Hotelgesellschaft in den Alpen eine Szene der derben Absurdität an die andere, die Altherrenwitze ebenso einschließt wie Fäkalhumor. Man muss fast meinen, dass diese plumpe Art des Tabubruchs eines doch versierten und vielfältigen Regisseurs provokativen Vorsatz hat. Mit Vorsatz muss auch der kürzlich verstorbene Regisseur William Friedkin inszeniert haben: unprätentiös in der Form erzählt er in The Caine Mutiny Court-Martial von einem Kriegsgericht über einen Marineoffizier Maryk (Jake Lacy), dessen Entscheidung, den Commander Queeg (Kiefer Sutherland), abzulösen als Meuterei gewertet wird. Basierend auf dem Roman von Herman Wouk und als Remake des Klassikers von 1954 mit Humphrey Bogart unter der Regie von Edward Dmytryk konzipiert, erzählt diese Neuverfilmung von der Gegenwart. Die Handlung ist im Jahr 2022 angesiedelt, ein mögliches Zeichen dafür, dass gerade reduzierende binäre Sichtweisen und Urteile heute in einer komplexen und schnelllebigen Welt vielleicht mehr denn je zu hinterfragen sind – eine fundamental irritierende Ambivalenz setzt Friedkin als Abrechnung ans Ende seiner Neuverfilmung und zeigt damit, wie eindringlich und unspektakulär filmisches Erzählen sein kann.
Im Hauptwettbewerb konnte besonders die Schauspielleistung von Cailee Spaeny in Priscilla die Jury überzeugen. Sophia Coppola erzählt in Priscilla von der Beziehung zwischen Priscilla Beaulieu und Elvis Presley. Dezidiert und konsequent aus der Frauenperspektive geschildert ist dieser Film ein neuer, dekonstruktivistischer Blick auf die Ikone Elvis Presley: Als ein nahezu psychopathischer Manipulator profitiert Elvis von dem Machtgefälle in der Künstler-Fan-Beziehung, um sich die junge Frau gefügig zu machen. Um eine größere Fragestellung der ausbeuterischen Tendenzen des Showgeschäfts geht es Coppola nicht. Ebenso wenig Bradley Cooper in Maestro, der Verfilmung des Lebens von Musiklegende Leonard Bernstein. Sein Film fokussiert die Schwierigkeiten des Eheverhältnisses zwischen Bernstein (Cooper) und Felicia Montealegre (Carrey Mulligan) – die Höhen und Tiefen, die mit den erratischen Stimmungsschwankungen eines Künstlergenies einhergehen, ohne dabei aber – trotz ausgedehnter Orchesterszenen – die Fertigkeiten des Musikers, sein besonderes Talent, wirklich greifbar werden zu lassen – in Venedig ohne Preis ausgezeichnet, dürfte der Film indes bei den Oscars seine Chancen haben.
Von Machtasymmetrie im ruralen Setting des ausgehenden 18. Jahrhunderts handelt auch Bastarden des dänischen Regisseurs Nikolaj Arcel. Mads Mikkelsen gibt Ludvik Kahlen, eine Legendenfigur, der versuchte sein Land zu bebauen. Mit beständig stoischer Miene lehnt sich dieser Kahlen auf, nicht nur gegen die Natur, die er zu bezwingen versucht, sondern auch gegen die Aristokratie, die die Bauernbevölkerung knechtet. Arcel achtet auf eine genaues Austarieren der Western-Motivik im nordischen Setting, das aus Bastarden eine Art des Nordic-Western macht. Um Genremuster geht es auch in Stefano Sollimas Adagio. Als eine Reise in die italienische Unterwelt Roms angelegt, macht Sollima deutliche Genreverweise auf Filme von Brian de Palma oder noch William Friedkin. Ein atmosphärisch dichter Großstadt-Thriller, der aber kaum Eigenständigkeit beanspruchen kann: Der sechzehnjährige Manuel (Gianmarco Franchini) gerät zwischen die Fronten, die entlang Erpressung, Korruption, Schuld und Sühne verlaufen. Korrupte Polizisten müssen gegen alternde Gangster vorgehen, die auf die Erlösung hoffen.
Evil Does Not Exist von Ryusuke Hamaguchi wurde mit dem „Großen Preis der Jury“ ausgezeichnet, der auch mit dem FIPRESCI-Preis geehrt wurde. So thematisch engagiert Hamaguchis Film ist, so reduziert ist er in seinem Stil, der ohne besondere Formbetonung der Schönheit der Natur nachspürt. Eine Dorfgemeinschaft nahe Tokio lebt in einem harmonischen Einklang mit der Umwelt, die da plötzlich gestört wird, als ein Glamping-Programm für die Tourismusbranche entstehen soll. Sanft und feinfühlig beobachtet Hamaguchi den Konflikt, den er nur ganz selten überspitzt darstellt. Seine Umweltgedanken wirken deshalb so eindringlich, weil Evil Does Not Exist so nachdrücklich wie bedächtig auf das fragile Band zwischen Mensch und Natur schaut.
Quentin Dupieux ist ein enfant terrible des französischen Kinos. Sein neuer Film Daaaaaali! ist vielleicht sein bisher meist vollendeter. Als ein surrealistisches Porträt des großen Künstlers angedacht, verdichtet Dupieux jene Elemente, die seine Filme bisher ausmachten: Eine fundamentale Ablehnung alles auch nur in Ansätzen rational Herleitbaren ist für Daaaaaali! prägend – als ein Versuch einer Erfassung des Traumzustandes, der von der Egozentrik des Künstlers erzählt. Mit allerlei Mise-en-abymes verliert dieser Film sich in narrativen Endlosschleifen hin zu einem filmisch kontrolliertem Chaos, das das Schaffen von Quentin Dupieux auf eine Reinstufe stellt.
Verwunderlich ist aber, dass die Jury sich in Bezug auf das beste Drehbuch auf El Conde unter der Feder von Guillermo Calderón und Pablo Larraín einigen konnten. Larraín kann in seinem neuen Film kaum eine der aufgeworfenen Ideen konsequent zu Ende führen. Seine Frauenporträts Jackie (2015), Ema (2019) und Spencer (2021) waren Werke der Konsequenz und Eigenwilligkeit. In El Conde erzählt er nun vom Diktator Augustin Pinochet im Modus der Satire und macht ihn zum blutrünstigen Vampir – eine Neuvariante der Dracula-Geschichte in der der Diktator seinen Tod nur vorgetäuscht hat und in ein rurales Exil geflohen ist. Ein Film als politische Satire anzulegen, von der Banalität und der Absurdität der Macht und des absolut Bösen zu erzählen, verlangt nach mehr Tiefe und nach schärferen Aussagen. Als untoter Vampir ist die Frage aufgeworfen, ob man Pinochet aus dem öffentlichen Gedächtnis jemals eliminieren kann. Als Horrorfigur traumatisiert er scheinbar immer noch, doch diese Grundfragen bleiben bei Larraín weitestgehend unberührt.
Gerade der enttäuschende Umstand, dass der Grieche Yorgos Lanthimos in Poor Things seine Ambivalenzen, seine Subversionen, schlicht sein irritierendes Kraftpotenzial früherer Werke zugunsten einer stärker lesbaren Form der Hollywood-Plakativität aufgab, mag erklären, warum nun gerade dieses Werk den Goldenen Löwen als besten Film erhalten konnte. Der Jury-Präsident Damien Chazelle arbeitete in seinem letzten Film, Babylon, mit einer ebenso aufdringlichen, wie absichernden Gefälligkeit, die als große Hommage an das Kino höchstselbst gewertet wurde. Mit seinem neuen Film will Lanthimos auf diesen Spuren wandeln.