kino

Notizen aus Venedig (1)

d'Lëtzebuerger Land vom 08.09.2023

Die 80. Filmfestspiele in Venedig bieten ein abwechslungsreiches Programm, das wie gewohnt Mainstream- und Arthousekino, die ältere Generation von Filmemachern und die jüngere zusammenführt und prägen dabei ein Filmensemble aus, das mit facettenreichen Tendenzen aufwartet. Freilich reichen die Wellen des Streiks in Hollywood auch bis an den Lido. Als Eröffnungsfilm des Wettbewerbs war Challengers von Luca Guadagnino vorgesehen, der aber kurzfristig aus dem Programm genommen wurde. Nichtsdestotrotz ist der amerikanische Film prominent in Venedig vertreten; die Annahme, dass das Festival darunter tatsächlich leiden würde, bleibt eine Behauptung. Denn tatsächlich sind mit zwei großen amerikanischen Produktionen, Poor Things von Yorgos Lanthimos und Ferrari von Michael Mann, zwei vieldiskutierte Projekte im Hauptwettbewerb um den Goldenen Löwen gezeigt worden – dabei ist Lanthimos‘ neuer Film einer der eher enttäuschenden Abweichungen von seinem Frühwerk, wohingegen Michael Mann mit äußerst herausragender, weil erhabener Werkkonstanz überzeugt.

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos hat es mit seinem neuen Film Poor Things nicht nur in den Wettbewerb von Venedig geschafft, nein, er ist damit auch endgültig und womöglich unwiederbringlich in Hollywood angekommen. Als Filmemacher mit einer ganz persönlichen Handschrift hat er ein skurriles und sonderbares Weltbild, das Fragezeichen platziert, keine Aussagen trifft – ein Kino der äußersten Irritation, das stört und lange nachhallt. Dogtooth (2009) und The Lobster (2015) erzählten von der totalitären, exzessiven Kontrolle, ein Themenfeld, das er in The Killing of a Sacred Deer (2017) und The Favourite (2018) weiter verdichtete – eine kritische, ja skurrile Infragestellung des pater familias, ein Patriarchat, das auf die Unterdrückung der Individualität zielte und die Angst vor dem Anderen schürte. Wenn seine Filme so schwer greifbar sind, dann auch deshalb, weil Lanthimos vielleicht am treffendsten die stilistischen Merkmale großer, verstörender und irritierender Filmkünstler in einem Gestus der radikalen Innovation zusammenbringt: Rainer Werner Fassbinder, Michael Haneke und, in Ansätzen, Stanley Kubrick. Machtstrukturen, die Absurdität der Kommunikation, die Banalitäten des Alltags bestimmen sein Werk auf besondere Weise – ein Grundton der allumfassenden Beklemmung ist dafür prägend. Allein der Blick auf seinen neuen Film genügt, um die Andersweltlichkeit des griechischen Regisseurs zu begreifen, doch die Anbindung an den breiten Publikumsgeschmack, das spürbare Anbandeln mit dem mittlerweile nahezu modisch engagierten feministischen Film lassen einiges von der Radikalität vermissen, die Lanthimos’ Filme bisher ausmachten: Poor Things ist auf der reinen Handlungsbasis zuvorderst eine Abwandlung des Frankenstein-Mythos, den er eher nach den Gesetzmäßigkeiten des Bildungsromans auslegt: Basierend auf dem gleichnamigen schwarzhumorigen Roman von Alasdair Gray begleiten wir Bella (Emma Stone), eine junge Frau, die von dem Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) wieder ins Leben gerufen wird. Die Idee vom Kind in einem erwachsenen Frauenkörper bildet den Ausgangspunkt, mit dem Lanthimos seine Anklage an das Patriarchat weiterführt. Anstelle der Subversion tritt aber die Plakativität, anstelle der Ambivalenzen tritt die Transparenz, die auf sofortige Lesbarkeit alles Ungerechten zielt, in einer Welt, die verkehrt ist: Mit einem Hang zur Schönheit in der Bildkomposition und den Kameraperspektiven schickt Lanthimos seine naive Heldin auf die Reise in die weite und verkommene (Männer-)Welt. Damit verbunden ist das konsensstiftende Bestreben, einen Ausruf nach mehr Gleichberechtigung zu formulieren, den Objektstatus der Frau in der Gesellschaft satirisch offenzulegen. Dabei fehlt es Poor Things indes an der analytischen Strenge, mit dem er den Schrecken beschaut. Gezielt wird das Geschehen immer wieder mit absurdem Humor gebrochen, der sich schnell in der Wiederholung erschöpft. Bezog Lanthimos aber noch zuvor gerade aus der Langatmigkeit, aus dem Ausdehnen einzelner Szenen bis zur Unerträglichkeit, seine besondere Qualität, so ist Poor Things nicht mehr langatmig erzählt, sondern eher unerträglich langweilig.

Enzo Ferrari setzt dagegen alles auf eine Karte – das Rennen der Mille Miglia soll die Wende für sein angeschlagenes Motorunternehmen bringen. Acht Jahre nach dem kommerziellen Misserfolg von Blackhat kehrt der amerikanische Filmemacher Michael Mann mit Ferrari zurück auf die Leinwand und er beweist damit einmal mehr, dass er die womöglich wichtigste Stimme des zeitgenössischen amerikanischen Films ist. Dass sich Ferrari nahtlos in das Werk dieses Ausnahmekünstlers einreiht, ist augenscheinlich: Mann ist fasziniert von der hochgradig effizienten Professionalität, mit der Ferrari sein Unternehmen rund um den Rennsport und besonders durch das Krisenjahr 1957 führt. Enzo Ferrari ist eine ikonische Person der italienischen Öffentlichkeit, aber auch eine umstrittene: Gerade sein Führungsstil bringt ihm allerlei harsche Kritik ein, die Zahl der durch Unfälle verursachten Todesopfer steigt an. Die vatikanische Zeitschrift L’Osservatore romano verurteilt ihn scharf, er sei der „industrielle Saturn, der seine Kinder verschlingt“. Obendrein steht das Unternehmen wirtschaftlich vor dem Aus. Den Weg aus der Krise bietet das prestigeträchtige Rennen der Mille Miglia …

Wer bei Mann nicht über das reine Gewand der Genreoberfläche hinausschaut, der übersieht die wahre Größe seines Kinos: Ferrari ist kein klassisches Sportdrama. Dafür genügt der Blick auf die dramaturgische Grundkonstellation: Für den Sportfilm unerlässlich ist der Andere, der Rivale – der einzige Rivale jedoch, mit dem Ferrari bei Mann zu kämpfen hat, ist er selbst. Es ist dieses tiefmenschliche Ringen nicht nur darum, seine Existenz zu sichern, sondern sich auch als den Menschen anzuerkennen, der man ist. Es ist ebendiese existenzialphilosophische Komponente, die diesem Film seine Intensität verleiht, die Würde und Gravitas gleichermaßen einfängt. Da gibt es die professionelle Ebene, die um den Rennsport kreist – dabei ist Ferrari weder Werbe- noch „Männerfilm“. Die private Ebene fokussiert äußerst klarsichtig die innerlich gescheiterte Ehe zwischen Enzo und Laura Ferrari (Penelope Cruz), die den Tod ihres gemeinsamen Sohnes Dino nicht zu überwinden vermochte. Beide Ebenen zusammenzuführen macht das innere Dilemma der Filmhelden Michael Manns aus. Bei aller Rasanz, Energie und Beschleunigung, die Mann überaus virtuos auf der Leinwand spürbar werden lässt – das Adrenalin, den Rausch, das Gefühl im Moment zu leben und frei zu sein – sind es vielmehr die Momente der Entschleunigung, des narrativen Anhaltens, in dem sich die Essenz dieser existenziellen Selbstbefragung in den Vordergrund des Bewusstseins schiebt: Eine intime Zwiesprache am Grabstein des verstorbenen Sohnes, ein Vater, der seinem Sohn seine Arbeit näherbringt, ein Opernbesuch – tiefenstrukturiert steht da immer die Frage, die nahezu jede Szene von Ferrari durchdringt: Wie ist die professionelle Geste mit der privaten zu vereinen? Was macht in der Folge den vollkommenen Menschen aus? Mann verdichtet all dies zu einem ungemein sinnlichen Filmerlebnis, dafür ist ihm sein Stil des „erhöhten Realismus“ zu eigen, ohne dabei Stilüberschuss oder Formvernarrtheit zu betreiben. Die Form durchdringt den Inhalt und ist mit diesem verhaftet, und so bestimmt der Inhalt wieder die Form. Form ist Inhalt und Inhalt ist Form. Ein Kinofilm der erhabensten Vollendung.

Marc Trappendreher
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