Kino

Rebellion und Strafe

d'Lëtzebuerger Land vom 01.09.2023

Den „objektiven“ Film gibt es nicht. Es gibt jedoch immer wieder Versuche, diesem illusorischen Konzept möglichst nahe zu kommen. Die amerikanische Filmemacherin Tina Satter legt mit ihrem Erstlingswerk Reality, dem das Theaterstück Is This a Room vorausging, einen beeindruckenden filmischen Essay vorr, der dem Anspruch, einen Eindruck von Realität möglichst direkt und ungefiltert einzufangen, sehr stark verpflichtet ist.

Dabei verweist der Filmtitel auf seiner denotativen Ebene nicht auf diesen Realitätseffekt, wie man vermuten könnte, sondern auf den Namen seiner Hauptfigur: Reality Winner wurde der US-amerikanischen Öffentlichkeit bekannt als die Whistleblowerin, die Geheimdokumente über eine russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf 2016 an eine Nachrichtenwebseite weitergeleitet hatte. Zunächst setzt der Film sehr undramatisch an: Als Winner vom Einkaufen nach Hause kommt, wird sie von FBI-Agenten mitsamt Durchsuchungsbefehl für ihr Haus konfrontiert. Alles Gesagte wurde mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet, dessen wortgetreue Abschrift die Grundlage für den Dialog des Films bildet. Darin liegt dessen besondere Qualität: Der Dialog ist die eindringlichste filmische Gestaltungsquelle von Reality. Über den Originalwortlaut der Konversationen bezieht der Film nicht nur seinen ungemein eindringlichen Realitätseffekt, sondern gibt auch Einblicke in die Ermittlungs- und Verhörstrategien des FBI.

Unzählige Male waren Verhörszenen Gegenstand filmischer Krimi-Genres, wie dem Thriller, dem Polar, dem Gerichtsdrama. Selten jedoch erlebt man sie derart eindringlich wie in Reality; eindringlich, weil die Echtheit des Gesprochenen sehr „unfilmisch“ wirkt, die drehbuchtechnische Dialogizität setzt hier nicht ein. Das Ausbleiben dieser Standardkomponente verleiht dem Film seinen Ausnahmestatus, ohne jedoch einen Spannungsbogen damit einreißen zu lassen. Was seitens der FBI-Ermittler wie ein ausgelassenes Gespräch über Alltagsgegebenheiten beginnt, dient möglicherweise schon der Beweisaufnahme, bevor dann unvermittelt das eigentliche Verhör einsetzt.

In der äußeren Formgebung achtet Tina Satter sehr auf diese dramaturgische Zuspitzung: Reality Winners Zurückgeworfenwerden auf sich selbst wird in der Bildgestaltung immer wieder aufgegriffen. Unerbittlich verharrt die Kamera auf ihrem Gesicht; der Film wird zusehends zum Kammerspiel, entsprechend dominieren nahe und halbnahe Einstellungen. Dieser klaustrophobische Effekt ist ungemein wirkungsvoll, legt er doch nach und nach Reality Winners Charakter frei: Es ist ein tieftrauriges Dasein, das hier beschrieben wird, die genauen Umstände für ihre Tat bleiben unerklärlich. An einer moralischen Positionierung ist Satters Film ohnehin wenig interessiert – weder folgt er dem Narrativ der heldenhaften Whistleblowerin, der Kämpferin für die demokratischen Werte des Landes, dem kaltherzige und skrupellos operierende FBI-Agenten entgegenstehen, noch verurteilt er sie als Landesverräterin.

Die ausgewogene und zurückhaltende Mise-en-Scène zeugt vielmehr von dem Versuch, ein Persönlichkeitsbild dieser Frau zu gewinnen. Dabei legt Satter schon sehr früh in ihrem Film Spuren, die erahnen lassen, wohin die Geschichte führen wird: Immer wieder wird auf den rebellischen Charakter von Realitys Haustieren angespielt, laut einsetzendes Bellen und Hundeleinen zum Anbinden, werden dem Originaltranskript der Unterhaltung entsprechend, wie beiläufig mitgeführt, eröffnen aber die Perspektive zum größeren Sinnzusammenhang des Films: Es sind Zeichen des Widerstandes, der ebenso verzweifelten wie aussichtslosen Auflehnung gegen die Übermacht eines größeren, undurchdringbaren Systems. Was bleibt, ist der Eindruck von einem offenbar unabänderlichen Kreislauf aus Rebellion und Strafe, in den sich die unscheinbare Reality am Ende nur folgerichtig einfügen muss..

Marc Trappendreher
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