Anatomie d’une chute von Justine Triet – der Gewinnerfilm der Palme d’Or bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes – ist ein Film, dessen Titel die dramatische Konzentration und Intensität seiner Handlung ganz durchdrungen hat – der Hauptteil des Films findet im Gerichtssaal statt, der Spielort des Films, der wie kein anderer die kalte Fixation der Gesellschaft zeigt. Davor steht aber zunächst ein einschneidendes Ereignis, das für die Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) alles verändert hat: Nach dem tödlichen Sturz ihres Mannes aus großer Höhe wird sie des Mordes angeklagt.
Man mag bei erster Betrachtung dazu verleitet sein, Anatomie d’une chute aufgrund seiner typischen Motive des Kriminalfilms, genauer des Justizdramas, als einen Genrefilm zu lesen, zumal bereits der Titel deutliche Anleihen macht bei dem Klassiker Anatomy of a Murder (1959). Triets Filmtitel belässt es aber ganz beim Umständlichen – ein Sturz wird hier untersucht, ein Mord ist nicht ausgeschlossen und ebenso wenig bewiesen. Die Genrebezüge dienen hier freilich nur äußerlich, um semantische Orientierungsangebote zu schaffen: Der Gerichtsprozess ist vielmehr die diskursive Plattform über die die diversen Facetten eines sehr komplizierten und schicksalsbelasteten Eheverhältnisses aufgeschlüsselt, ja dem Filmtitel entsprechend, seziert werden.
Diese dem Erkenntnisgewinn dienende ‚Zergliederung‘ findet ihre Entsprechung in der Form: Triets Kameramann Simon Beaufils operiert mit einer ähnlich rigorosen und präzisen Strenge, die der Filmtitel vorgibt. Die Kameraführung ist überwiegend statisch und unbewegt, während der Blick meist auf einem engen, begrenzten Bildausschnitt verharrt. Dieses Stilmittel ist symptomatisch für die gesamte Erzählung: Das Beharren auf Einzelheiten, etwa auf einzelnen Worten eines aufgezeichneten Streitgesprächs des Ehepaares, das Herausreißen dieser aus dem Gesamtkontext ist es, worauf die Staatsanwaltschaft drängt. Triet inszeniert vor allem den Staatsanwalt als ein kalt operierendes Instrument eines Gerichtssystems, das auf den Schuldspruch zielt, nicht so sehr auf die Findung der Wahrheit. Freilich leistet sie damit dem Stereotyp des theatralischen, rhetorisch bewanderten Wahrheitsverdrehers Vorschub, dies ist in Bezug auf die Fokussierung auf die Unschuld der Frauenperspektive nur folgerichtig. Die Isoliertheit dieser Frau inmitten des Gerichtssaals wird denn auch in der Bildgestaltung immer wieder anschaulich. Nur selten öffnet sich der Blick der Kamera zu einem etwas weiteren Bildausschnitt, geschweige denn in die Tiefe des Raums. Halbnahe und nahe Einstellungen, sowie Großaufnahmen herrschen vor, die repetitiv gegeneinander ausgespielt werden, dem rhetorischen Wortgefecht zwischen Anklage und Verteidigung entsprechend. In diesem stilistischen Konzept wird vor allem eines ansichtig: Die starre und leblos scheinende „Wirklichkeit“ des Gerichtssaals, in dem sich die Figuren bewegen, lebt aus dem reinen Gestus des a posteriori. Das Bestreben der Justiz die unmittelbare Erlebniswelt einer Familie nachzuerzählen – deren Erfahrungen im Moment nachträglich aufzuarbeiten und fortwährend zweiseitig zu perspektivieren, lässt die Absurdität der Szenerie deutlich werden. Triets Film bekundet denn auch keine Suche nach Wahrheit, sondern zeigt einen Prozess um die Deutungshoheit der Aussagen, in dem einer Frau beständig die Glaubwürdigkeit in Bezug auf ihre eigene Intimitätssphäre abgesprochen wird. Dennoch ist Anatomie d’une chute keine dedizierte Anklage des Justizsystems. Triet schildert mit einer größtmöglichen Aufrichtigkeit von der etwaigen Unmöglichkeit ein Eheverhältnis und die Intimsphäre einer Familie in den öffentlichen Raum zu verlagern. Darin lässt sie ebenso präzise wie unerbittlich die Fehlbarkeit der Justiz anklingen und zeigt auf beängstigende Weise wie schmal der Grat zwischen Falschurteil und Rechtsspruch sein kann.