Deutschland

Hygienische Spaziergänge

d'Lëtzebuerger Land vom 15.05.2020

Es geht eine Angst um in Deutschland. Gefürchtet werden weder Tod noch Teufel, weder Virus noch Vergänglichkeit, sondern Totalitarismus und Totalversagen. Mit den Versuchen der Politik, die Auswirkungen der Corona-Pandemie einzugrenzen, wächst der Unmut in Teilen der Bevölkerung. Der anfängliche gesellschaftliche Konsens wird zunehmend von einzelnen Gruppierungen aufgekündigt und es wird zum Widerstand gegen staatliche Verordnungen aufgerufen. Als sichtbares Zeichen treffen sich dazu jeweils am Samstagnachmittag Menschen zu sogenannten Hygiene-Spaziergängen. Am Anfang belächelt, gewinnen diese Protestwanderungen durch die öffentlichen Räume von Städten immer mehr Zulauf. Aufbegehrt wird bei den Promenaden gegen Impfzwang, Maskenpflicht, Versammlungsverbot, Kontakteinschränkungen, staatliche Digital-Überwachung und einen Verrat am deutschen Grundgesetz, besonders den darin verbrieften Grundrechten. So sehen die schlendernden Menschen vor allem die Meinungs- und Reisefreiheit beschränkt – wobei es eine krude Vorstellung davon gibt, was Reisefreiheit im Sinne des Grundgesetzes überhaupt bedeutet.

In Berlin hat sich die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand – eingetragener Verein in Gründung“ als Speerspitze der Bewegung installiert. All wochenendlich trommelt er auf dem Rosa-Luxemburg-Platz seine Spaziergängerinnen und Lustwandler zusammen. Es treffen sich dann Extremisten, Mitglieder der rechtsextremistischen NPD und der linksextremistischen DKP, Verschwörungstheoretiker und Esoteriker, um gemeinsame Sache zu machen. Sie halten die Corona-Schutzverordnung für eine Verschwörung von Politik, Bill Gates und der Wirtschaft. Die Proteste richten sich dabei nicht gegen eine konkrete Einschränkung, sondern vielmehr gegen die Art, wie die Regierung Entscheidungen trifft und durchsetzt. Viele fühlen sich dabei übergangen, in ihrer Freiheit eingeschränkt und halten die Beschlüsse grundsätzlich für falsch. Einige Teilnehmenden fordern sogar ihr Recht ein, sich mit Covid-19 infizieren zu dürfen. Werden ihre Ansichten und Äußerungen von Kritikern als Verschwörungstheorien dargestellt, wird dies im Umkehrschluss als Beleg für den „undemokratischen Mainstream“ und die kritiklose Masse gewertet. Sich selbst betrachten die Spaziergänger als Aufklärer und Querdenker – oder schlicht als das Volk. Wenngleich die Verantwortlichen diese Überhöhung ablehnen und sich vielmehr als „Die Opposition“ sehen.

Mit der politischen Glaubwürdigkeit tut sich die Kommunikationsstelle indes schwer. „Um es klar zu sagen“, heißt es etwa im Spazieraufruf vom vorvergangenen Wochenende: „Mit Antisemiten und nationalistischen Holocaustleugnern haben unsere Spaziergänge nichts zu tun.“ Dennoch bekommt fünf Seiten später Moustafa Kashefi – besser bekannt unter seinem Pseudonym Ken Jebsen, der den Holocaust als PR-Erfindung abtut – Raum und Zeilen. Zudem beruft sich die Spaziergangsvereinigung gerne und ausführlich auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, dessen Positionen sich mitunter auf Theorien des Ausnahmezustands beziehen, wie sie der deutsche rechts-nationale Staatsrechtler Carl Schmitt in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts formulierte. So schrieb Agamben bereits am 18. März in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung, dass die staatlich organisierte „Panikwelle“ den Menschen auf die rein biologische Funktion des Überlebens reduziert habe. Durch das Kontaktverbot sei der Mitmensch ausgelöscht worden. Eine Gesellschaft aber, die im ständigen Ausnahmezustand lebe, könne keine freie Gesellschaft mehr sein. Und es werde noch schlimmer, so Agamben weiter in der NZZ, denn jene „Experimente, die die Regierungen zuvor nicht hätten durchführen können, würden nun fortgesetzt. So seien Universitäten und Schulen geschlossen worden, damit man endlich aufhöre, sich zu versammeln und über politische oder kulturelle Angelegenheiten zu reden.

Die Kommunikationsstelle bedient sich bei rechten Extremen, wie sie auch linke Positionen vereinnahmt, in dem sie von einer illegalen Ermächtigung des Staates spricht – ein Narrativ, das von Linke, wie auch seit Jahren von der Neuen Rechten bedient wird. Ebenso wie die Installation des Feindbilds „Elite“. Die Linke arbeitet sich dabei an der herrschenden Elite der Kapitalisten ab, die Rechten an der nicht legitimierten Elite falscher Demokraten. Zudem misstrauen beide Seiten den Medien, der Wissenschaft, den offiziellen Statistiken, den staatlichen Institutionen und dem gesellschaftlichen Konsens. Sie hofft so, sich politisch unauffällig und lagerübergreifend zu positionieren, liefert aber damit den Beweis für die umstrittene Hufeisentheorie, dass man soweit nach rechts laufen kann, dass man links rauskommt – und umgekehrt.

Wer außen vor bleibt, das ist die AfD. Der Partei ist es nicht gelungen, den Unmut über Corona für sich zu vereinnahmen und in politisches Kapital umzumünzen. Noch dazu hat sie im angestammten Wutbürgerklientel Konkurrenz bekommen: „Widerstand 2020“ heißt die neue Partei eines süddeutschen HNO-Arztes, in der man durch zwei Klicks im Internet Mitglied werden kann. Ganz ohne Mitgliedsbeitrag. Statt Aluhut tragen die Mitglieder als Parteiabzeichen eine Alu-Bommel um den Hals.

Martin Theobald
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