Tausende Flüchtlinge strömen aus allen Ecken der Türkei an die griechische Land- und Seegrenze. Die griechischen Behörden versuchen, sie mit Gewalt zurückzudrängen. An der Südost-Grenze der EU entstehen Bilder des Chaos und die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagt, es sei Zeit für „ein Handeln auf Grundlage unserer Werte“. Die Werte kann man sich nicht freiwillig aussuchen. Sie sind im EU-Vertrag festgehalten: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“
Doch das Auftreten der griechischen Behörden, in diesem Fall als Vertreter der EU, stellt genau diese Werte infrage. Eindeutig konzeptlose griechische Polizisten feuern mit Tränengas, dann mit Plastikkugeln und schließlich mit echten Kugeln auf Flüchtlinge. Athen schickt seine Armee zu einer „Truppenübung mit echter Munition“ – gegen unbewaffnete Menschen, die nichts mehr besitzen, außer einer kleinen Hoffnung.
Es gibt Tote und Verletzte. Auf Videos sind Frauen und Kinder zu sehen, die panisch schreiend und ziellos herumrennen. Der griechische Regierungssprecher, nennt diese Bilder „Fake News“ und macht dabei nicht den Eindruck eines verantwortlich han-
delnden Europäers, sondern erinnert eher an den lügenden Informationsminister des irakischen Diktators Saddam Hussein. Mit der Achtung der Menschenwürde, mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hat das nichts mehr zu tun.
Dennoch bevorzugt die EU, den Kopf in den Sand zu stecken. Die EU-Innenminister trafen sich Mittwoch in Luxemburg und stärkten den Chaoten in Athen noch den Rücken. Griechenland erledige die Aufgabe des Schutzes der EU-Außengrenzen sehr gut, sagte Deutschlands Innenminister Horst Seehofer. Selbst die griechische Entscheidung, das Asylrecht, mir nichts dir nichts, außer Kraft zu setzen, sei „in Ordnung“, so Seehofer. Nur Außenminister Jean Asselborn hielt dagegen.
Warum stehen EU-Politiker wie ein Haufen Dilettanten da? Die Antwort ist einfach: Weil sie Geisel eigener geopolitischen Vorstellungen und des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sind, aber das nicht hinterfragen wollen. Erdogan, ein Autokrat, droht seit Jahren damit, Flüchtlinge in die EU zu deportieren. Türkische Behörden, so wird berichtet, zwingen sie in Busse, fahren sie an die Grenze und setzen sie dort aus. Dabei schrecken sie nicht einmal davor zurück, mit Menschenschleppern zu kooperieren.
Die EU weiß das. Die Drohungen des Erdogan-Regimes sind seit Jahren bekannt. In bester Kolonialisten-Manier wogen sich die Europäer jedoch in der Illusion, die Türkei könne sich nicht leisten, auf Konfrontationskurs mit Europa zu gehen. Die Alternative wäre, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Diese liegen aktuell in Syrien.
Dort naht das Ende des Bürgerkrieges. Das Regime in Damaskus, keinen Deut besser als das in Ankara, gewinnt den Krieg mit Unterstützung aus Russland und dem Iran. Die syrische Armee geht im Provinz Idlib an der türkischen Grenze gegen die letzte gebliebene starke islamistische Gruppe, dem Al-Qaida-Ableger „Haiat Tahrir asch-Scham“ vor. Die Bewohner der Provinz flüchten nicht nur vor den Bomben der Syrer und der Russen, sondern auch vor den Schlächtern der Islamisten in Richtung Türkei. Es sind aber nicht dieselben Menschen, die jetzt nach Europa wollen. Denn die Flüchtlinge aus Idlib kommen nicht einmal über die türkisch-syrische Grenze, die derzeit nur in eine Richtung und nur für türkische Militärs durchlässig ist.
Seit Jahren unterstützt Ankara in diesem geopolitischen „Spiel“ islamistische Extremisten in Syrien. Es versucht, eine absolute militärische Niederlage dieser Gruppen zu verhindern, um den geistesverwandten Muslimbrüdern zu helfen und damit den eigenen Hegemonieansprüchen in der Region Raum zu schaffen. Mittlerweile sieht es sogar Teile Syriens als eigenes Terrain an.
Doch Moskau ist militärisch eine Nummer zu groß für Ankara. Darum fordert Erdogan Unterstützung für seine Armee, die schwere Verluste erleiden. Der Westen scheint unwillig zu sein. Aber auch das täuscht. Denn, obwohl die Nato die von Ankara angeforderte Luftunterstützung noch nicht gibt, beeilen sich westliche Politiker, ihre politische Unterstützung kundzutun. Auch türkische Pläne, Teile Syriens auf Dauer zu besetzen, stoßen in der EU nicht auf Ablehnung. Im Gegenteil: Die EU findet es überlegenswert, Flüchtlingslager in Nordsyrien zu bauen, die dann unter türkischer Kontrolle stünden.
Die Unterstützung für Erdogans Pläne ist nicht nur in der Angst vor mehr Flüchtlingen begründet. Der Westen half 2011, das Regime in Syrien zu destabilisieren und ließ die, die auf Demokratie hofften, im Stich. Nun muss der Westen entscheiden: Entweder akzeptiert er den russischen und iranischen Einfluss in der Region, der sich überhaupt durch die Fehler des Westens erst vergrößerte, oder er versucht, ihn zurückzudrängen. Die zweite Option ist nur mit Hilfe Erdogans möglich. Westliche Regierungen tendieren zu dieser Option und nehmen in Kauf, dafür mit einem islamistisch-nationalistischen Autokraten kooperieren zu müssen. Doch auch dann gilt: So lange sich die Mitgliedstaaten uneins sind, wie mit den durch den Krieg entstandenen Flüchtlingsbewegungen umgehen, wird die EU weiter gegen eigene Wertvorstellungen handeln.