Die Stadt Hanau ist deutsches Mittelmaß. Im Speckgürtel von Frankfurt am Main gelegen. Knapp 100 000 Einwohner. Mit den Gebrüdern Grimm verbandelt. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, anschließend wieder aufgebaut. Hier, in dieser hessischen Beschaulichkeit, passierte am Abend des vergangenen Mittwochs genau das, was viele seit Jahren befürchtet haben: Ein Rechtsextremist verübt Terrorakte, bei denen neun Menschen sterben, die von ihm zuvor als nicht-deutsch ausgewählt, wenn nicht gar „selektiert“ wurden. Der Täter ist ein 43-jähriger Deutscher, der laut Polizeiangaben ein Bekennervideo und -schreiben im Internet veröffentlicht hat, das Verschwörungstheorien, rechtsextremistische und rassistische Parolen enthält.
Und es kam einem politischen Reflex gleich, dass wenige Stunden – nachdem der Generalbundesanwalt Peter Frank erklärt hatte, dass die Morde von Hanau mutmaßlich auf das Konto eines Täters mit rassistischer, rechtsextremistischer Gesinnung gingen – Sprecherinnen und Vertreter von CDU, FDP, Grünen, Linken und SPD einen Zusammenhang mit der AfD herstellten. Annegret Kramp-Karrenbauer, Noch-Chefin der Union, forderte etwa, „dass es keine Zusammenarbeit mit der Partei geben darf, die zum Teil Rechtsextreme, ja ich sage auch ganz bewusst ‚Nazis‘ in ihren eigenen Reihen duldet.“ Lars Klingbeil, Generalsekretär der Sozialdemokraten, bezeichnete die AfD als „politischen Arm der extremen Rechten“, der nun endlich vom Verfassungsschutz beobachtet werden müsse. Selbstredend wies die AfD umgehend alle Schuld von sich: „Ich finde es schäbig, eine solche Tat zu instrumentalisieren“, so Alexander Gauland, AfD-Fraktionschef im Bundestag, der kaum davor zurückschreckt, Morde von nicht-deutschen Tätern zu eigenen Zwecken zu instrumentalisieren.
Die gegenwärtigen Radikalisierungsprozesse in westlichen Gesellschaften sind ein komplexer Prozess, die ihre Wurzeln in der technischen Modernisierung durch Digitalisierung und Globalisierung haben. Der technischen Avantgarde steht ein gesellschaftlicher Roll-Back der zunehmenden Anzahl von Menschen entgegen, die sich als von der technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt betrachten und sich an Traditionen klammern, nach Gründen und Rechtfertigungen suchen, die oftmals in Hass münden. In Bezug auf die zunehmende Hasskriminalität in Deutschland wie auch in anderen westlichen Ländern zeigt sich, dass dies nicht zufällig mit dem Erstarken von rechten Parteien einhergeht. „Rassistische Stimmungen, wie sie die AfD erzeugt, verstärkt die Gefahr von rassistischer Gewalt und Terror und die Angst bei Betroffenen. Die AfD stellt Personengruppen als Bedrohung dar, was gewaltaffine Einzelpersonen oder Gruppen dann aufnehmen können, um Sündenbücke, legitime Ziele und einen Sinn für Aggressionen zu finden“, beschreibt der Soziologe Matthias Quent einen Radikalisierungsprozess. „Insofern trägt die AfD eine gesellschaftliche Verantwortung, aber der Rassismus reicht auch über diese Partei hinaus.“
Gesellschaft und Politik in Deutschland debattieren nun die Rolle, die Schuld und die Verantwortung der AfD für die Morde von Hanau. Bislang ist nicht ersichtlich ist, dass der Attentäter irgendeine direkte Verbindung zu der rechten Partei ist. So wird in seinem Bekennerschreiben die AfD nicht direkt erwähnt. „Von einer Schuld im juristischen Sinne kann man natürlich nicht sprechen“, erklärte etwa der Carsten Koschmieder, Parteienforscher an der Freien Universität Berlin, gegenüber der ARD. „Aber es ist natürlich schon klar, dass die AfD und was einzelne Politiker der Partei sagen, mit dazu beiträgt, dass es solche Taten gibt.“ Sei es, dass der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke einen „großen Bevölkerungsaustausch“ unterstellten, dass also die Deutschen durch Einwanderung in ihrer Existenz bedroht seien. Anklänge daran finden sich etwa im Bekennerschreiben des Täters von Hanau. Darin heißt es etwa, „dass das deutsche Volk degeneriert, weil zu viele Leute einen deutschen Pass haben, die gar keine reinrassigen Deutschen sind.“
Es ist Konsens, dass die AfD in den vergangenen Jahren die Grenzen des Sagbaren verschoben – oder wie es Gauland ausdrückte: „den Korridor des Sagbaren ausgeweitet“ – hat. Doch dies trifft nicht nur auf die politische, sondern auch auf die gesellschaftliche Debatte zu, wenn etwa deutsche Leitmedien wie die Tageszeitung Die Welt den Polemiken des Bloggers „Don Alphonso“ Leserschaft bietet. Zwei Tage vor dem Terroranschlag von Hanau veröffentlichte der Autor einen Beitrag unter dem Titel „Leitkulturorgie nach den kulturmarxistischen Merkelpartys“, den der Rechtsextremismus-Forscher Clemens Heni zusammenfasst: „Sex und Gewalt, Minderwertigkeitskomplexe und die psychotische Liebe zur Masse waren noch immer die Ingredienzien faschistischer Bewegungen. Ein Nazi ist feige und [ist] nur ein Nazi in der Masse oder mit einer geladenen Waffe in der Hand.“ In seinem als „Manifest“ betitelten Bekennerschreiben erachtet der Attentäter von Hanau einen riesigen Völkermord für sinnvoll.
Nach den Attentaten von Hanau, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Mord- und Anschlagsserie der NSU dauerte es lange, bis die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft diese Untaten als Terror einordneten. Es ist Fakt, dass Verfassungsschutz und Polizei lange Zeit auf dem rechten Auge blind waren, es so den Rechten sogar ermöglichten staatliche Organe zu unterwandern, wie es die Anfang des Monats ausgehobene Terrorzelle offenbarte. Es ist jedoch auch eine Illusion zu glauben, dass Sicherheitsapparate des Staates jedweden Terrorismus verhindern können. Die Möglichkeiten dieser Institutionen sind in einer Demokratie begrenzt. Nicht alle Täter verhalten sich auffällig, sondern tauchen in der Anonymität der Masse und des Internets unter, beginnen sich im „stillen Kämmerlein“ zu radikalisieren – ohne dass die Umwelt dies bemerkt. Ein Überwachungsstaat Orwell’schen Ausmaßes zu etablieren, verstößt gegen das Freiheitsdenken einer Demokratie. Sie muss sich mit einem wehrhaften Rechtsstaat gegen die Aushöhlung von Innen wehren. Als Andreas Galau von der AfD, Vizepräsident im brandenburgischen Landtag, Anfang der Woche eine von Abgeordneten beantragte Aktuelle Stunde zum Rechtsterrorismus, verhinderte, wies ihn das Brandenburgische Verfassungsgericht in die Schranken.