Fürstenberg an der Havel ist ein beschaulicher Ort in der norddeutschen Weite. Nix beeindruckendes. Viel Wasser, ein Schloss, eine Ansammlung typischer Discount-Märkte an der Durchfahrtsstraße. Fürstenberg ist weit entfernt von Grevenmacher und von Schengen, wo in diesen Tagen die Europaflagge auf Halbmast weht. Es gibt wohl kein einprägsameres Sinnbild als jene Trauerbeflaggung an jenem Ort. Schließlich steht der Ort an der Mosel wie kein anderer auf dem Kontinent für ein grenzenloses Europa. Doch das riegelt sich gerade selbst ab, in einem Momentum nationaler Alleingänge, die ein wenig an Sandkastenspiele von Kleinkindern erinnern: „Der da hat aber angefangen.“ So mag Berlin den Schwarzen Peter auf Warschau schieben, Warschau auf Prag, Prag auf Wien. Und alle, darin sind sie sich einig, nehmen die Corona-Pandemie als Anlass oder als Entschuldigung, und machen die Grenzen dicht.
So stehen nun auf den Moselbrücken seit Mitte März deutsche Bundespolizisten, die mit großer und tiefer Gründlichkeit die Pendlerströme zwischen dem Großherzogtum und der Bundesrepublik kontrollieren. Deutschland hatte die Grenzen wegen der Eindämmung des Corona-Virus kurzerhand geschlossen und die Nachbarländer nur per knappem Schreiben darüber in Kenntnis gesetzt. Die einseitige Grenzschließung, so hat es Bundesinnenminister Horst Seehofer zu Beginn der Woche verkündet, sollen bis Mitte Mai weitergelten. Die Begründung lautete am Montag: Mit den Grenzkontrollen „sollen die Infektionsgefahren durch das Corona-Virus weiter erfolgreich eingedämmt werden, indem Infektionsketten unterbrochen werden“, so ein Sprecher des Innenministeriums in Berlin. Sie seien angesichts der „weiterhin bestehenden fragilen Lage“ noch erforderlich. Über die Verlängerung informierte Seehofer selbstredend umgehend die EU-Kommission und seine Ministerkollegen in der Europäischen Union über seine Entscheidung.
Der grenzüberschreitende Warenverkehr sowie Grenzübertritte von Berufspendlern sollen weiter gewährleistet bleiben, wie Seehofer versicherte. Auch grenzüberschreitende Reisen seien in Einzelfällen grundsätzlich zulässig, wenn triftige Gründe vorliegen. Dazu zählen nach Ministeriumsangaben ärztliche Behandlungen, Todesfälle im engsten Familienkreis sowie Einreisen zum Ehepartner oder eingetragenen Lebenspartner, nicht aber zum Freund oder zur Freundin. Diese Regelungen gelten für Reisende aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark sowie für Flugreisende aus Spanien und Italien. Zu Belgien und den Niederlanden gibt es keine Kontrollen, die Grenzen Deutschlands zu Polen und Tschechien wurden von den Regierungen in Warschau und Prag geschlossen.
Den Unmut Luxemburgs brachte Premier Xavier Bettel auf den Punkt: „Eine ganze Menge Leute haben das falsch verstanden. Soziale Distanz heißt nicht nationale Distanz. Es heißt nicht, dass die Länder auf einmal nicht miteinander zu tun haben wollen.“ Und weiter: „Im Moment ist es so, dass ganz viele Länder einseitig Entscheidungen getroffen haben, ohne mit ihren Nachbarn zu reden.“ Luxemburg ist dabei in einer äußerst prekären Situation, denn auch die Nachbarländer Frankreich
und Belgien haben ihrerseits Grenzkontrollen eingeführt. Die Auswirkungen schilderte Léon Gloden, Bürgermeister von Grevenmacher, wenn er in einem offenen Brief von bis zu vier Stunden langen Wartezeiten und steigenden Emissionswerten spricht, da die kürzeste Strecke von der Autobahn zur Grenzbrücke direkt durch den Ort führt. Was ihm besonders aufstößt: Während Luxemburger nicht mehr in Deutschland einkaufen dürfen, hat sich die deutsche Bundespolizei beim Tanken in Luxemburg erwischen lassen. Mehrfach. Das schüre Ressentiments gegen den Nachbarn, so Bürgermeister Gloden.
In Fürstenberg an der Havel weht keine Europaflagge. In der Stadt rund 70 Kilometer nördlich von Berlin baumeln nur Deutschlandfahnen im Wind. Das mag nach Klischee klingen, das ist aber so. Und doch hatte der Ort in den vergangenen Wochen viel mit Grevenmacher und Schengen gemeinsam, denn kurz hinter Fürstenberg verläuft die Grenze – zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Nachdem sich die mecklenburgische Landesregierung zu einem besonders rigorosen Vorgehen in der Corona-Krise entschlossen hatte, setzte sie touristische Reisen, Familienbesuche und das Aufsuchen des Zweitwohnsitzes für Nicht-Landeskinder auf die Verbotsliste. Warntafel an der Bundesstraße kurz hinter Fürstenberg wiesen darauf hin; Bahnreisende wurden von den Zugbegleitern auf diese Rechtslage aufmerksam gemacht. In Neustrelitz – erster Halt hinter der „Grenze“ – wurden dann Reisende beim Verlassen des Zugs von der Bundespolizei überprüft.
Wagenburgbeschlüsse scheinen für viele Politiker das Gebot der Stunde zu sein. Dies resultiert auch aus der Wahrnehmung darüber, wie in Wuhan, dem Nukleus der Corona-Pandemie, diese bekämpft und bewältigt wurde. Doch die gesellschaftlichen wie politischen Bedingungen in China sind mit denjenigen in Europa nicht vergleichbar. Insbesondere da die Grundwerte der Europäischen Union auf einem Set von Freiheiten beruhen. Diese können in Ausnahmesituationen ausgesetzt werden, dies jedoch nur begründet und unter festgesetzten Voraussetzungen, in gegenseitigem Einvernehmen und für eine bestimmte Zeit. Verlängerungen der Maßnahmen mögen möglich sein, doch dürfen sich daraus keine „Dauerzustände“ erwachsen. Die Grenzschließungen in Europa lassen manche dieser Voraussetzungen vermissen.
Die Europaflagge soll noch bis morgen auf Halbmast wehen, dann sollen Musikkorps – zum Europatag – auf den Grenzbrücken zwischen Luxemburg und Deutschland für ein freies Europa trommeln. In Fürstenberg wird kaum jemand diesen Tag zu Notiz nehmen, geschweige denn überhaupt eine Europaflagge hissen. Immerhin: Mecklenburg-Vorpommern hat angekündigt, die Einschränkungen für Reisende zum 25. Mai wieder aufzuheben.