Der US-amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Sean Baker wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme für Anora geehrt. Es ist der erste Preis an einen amerikanischen Filmkünstler seit Terrence Malicks Palmen-Gewinn für Tree of Life (2011). Sean Baker avanciert mit dieser Auszeichnung zu einem immer angesagteren Autoren an der Peripherie Hollywoods post #metoo, der seit dem Beginn seiner Regiekarriere vor allem eines gemacht hat: konsequent die Randexistenzen der USA in den Blick zu nehmen.
Sean Baker nimmt sich Figuren an, die mit Vorurteilen behaftet sind, die abseits vertretbarer Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen. Aber, und das ist das Entscheidende, er blickt auf sie ohne Kommentar. In seinen Filmen seit Four Letter Words (2000), einer Komödie um die männliche Jugend der amerikanischen suburbia, bildet er das ab: Er wertet und urteilt nicht über seine Figuren, sondern versteht sie. Er lässt ihnen ihre Würde da, wo andere Filmemacher sie eher als Stichproben verwenden würden, um politische Botschaften zu formulieren. Dieser Zurückgenommenheit entspricht auch die unspektakuläre Dramaturgie seiner Filme: keine dramatischen Wendepunkte, keine großen Gefühlsausbrüche, keine Larmoyanz. Starlet (2012) erzählt von der ungewöhnlichen Freundschaft der älteren Flohmarkthändlerin Sadie (Besedka Johnson) und der jungen Pornodarstellerin Jane (Dree Hemingway), die zu einem Mutter-Tochter-Verhältnis reift. Einer der dramatischsten Momente in Starlet ist vielleicht der Augenblick, in dem man gewahr wird, dass der gleichnamige Hund, ein Chihuahua, entlaufen ist. Die Wirkung des Kinos von Sean Baker entfaltet sich in Momenten der ruhigen Einsicht, des gegenseitigen Verständnisses der Figuren. Dafür genügen Baker die Blicke seiner Darsteller in lang anhaltenden Großaufnahmen, ihm genügen die Augen, die nur knapp direkt an der Kamera vorbei gehen – in ganz eindrücklich selbstreflexiven Momenten.
Los Angeles ist selten schön in Bakers Filmen. Er stellt sich damit auch entschieden gegen ein tradiertes Bild von Hollywood aus Glamour und Prunk. L.A. ist bei ihm eine Metropole, die ihre Schattenseiten nicht verschweigt. Er entzaubert die „Stadt der Lichter“ mit einem ungemeinen Verismus in der Darstellung. Dieser Zugang findet sich vielleicht in Tangerine (2015) am deutlichsten wieder: Der Film erzählt von einer gerade aus dem Gefängnis entlassenen transsexuellen Prostituierten, die sich auf eine lange nächtliche Suche nach der Frau macht, mit der ihr Mann sie betrogen hat. Ganz mit einer Smartphone-Kamera gedreht, entwickelt dieser Film einen sonderbaren Sogeffekt. So echt wie dieser Eindruck im Film auch ist, besteht Bakers Kunst auch darin, mit diesen Bildern eine Form der Poesie zu beschwören, die sich aus Milieustudie und Alltagsrealität speist und doch durch sein Kameraauge überhöht wird – der Effekt ist in seiner Unmittelbarkeit poetisch. Doch nicht nur über die Originalschauplätze generiert Baker seinen Authentizitäts-Effekt, er stellt ihn auch über die Natürlichkeit seiner Schauspieler her. Für Starlet und Red Rocket (2021) engagierte er tatsächliche Pornodarsteller. Auch Laien nimmt er gleichwertig in seinen Filmen auf, die wie aus dem Leben gegriffen wirken. Ebenso zeigt er heruntergekommene Wohnungen und karge Industrielandschaften, die trostlose Tankstellen, die großen leeren Parkflächen der Einkaufszentren wie beiläufig; sie stehen da als stillschweigende Indizien dafür, dass Wohlstand und Sorgenfreiheit nicht für jeden gelten. In The Florida Project begleiten wir eine Familie in der sozialen Prekarität, die in einem Motel lebt, das den Namen „Magic Castle“ trägt. Man träumt von Disneyland, das auf nur einige Meter vor der Haustür wartet, aber erreichen wird man es nie.
Ins Zentrum dieses Films rückt Baker die kleine Moonee (Brooklynn Prince), die zu unseren Augen auf die Welt wird. Damit schafft Baker auch in diesem Film sein poetisches Moment: Die einzigen erwachsenen Figuren, die in The Florida Project entwickelt werden, sind Halley (Bria Vinaite), eine komplizenhafte Mutter, die sich sehr unreif und verantwortungslos gibt, um die Verbundenheit mit ihren Kindern zu bewahren, und Bobby Hicks (Willem Dafoe), der Manager des Motels, der für alle die Rolle des Ersatzvaters und wohlwollenden Beschützers übernimmt. Obwohl Baker einen quasi-dokumentarischen Stil bevorzugt, ermöglicht dieser Zuschnitt ihm, eine Leichtigkeit aufrechtzuerhalten und seine Poesie zu wahren. Baker fokussiert nicht auf das Elend, das in der Armut liegt, wie einer Szene mit Moonee beim Spielen in der Badewanne: Es sind rituelle Spiele, die sich ohne ersichtlichen Grund wiederholen, bis man versteht, dass ihre Mutter Moonee zum Baden schickt, wenn sie „Gäste“ empfängt, um davon ihr Zimmer zu bezahlen.
Auch die Pornodarstellerin Jane in Starlet hat die Abbiegung nach Hollywood knapp verfehlt; sie ist wohl ein Medienstar, aber eben nur am Rande. Mickey Saber (Simon Rex) aus Red Rocket ist ebenfalls ein Pornodarsteller, der in L.A. Popularität erlangt hat, doch das gezeichnete Gesicht verrät uns schnell, dass dieser zwielichtige Ruhm auch eine Kehrseite hat. Mickey hat das vermeintliche Paradies gefunden und verloren. Jetzt versucht er, in seiner früheren Heimat Texas wieder Fuß zu fassen. Doch auch in dort sind die Verhältnisse nicht sichtlich besser, Armut und Perspektivlosigkeit bestimmen das Leben. Red Rocket ist die Geschichte eines sehr charismatischen, aber auch parasitären Menschen. Baker zeigt dessen zügellose Redegewandtheit, die ihm auf privater Ebene Türen öffnet – seine Ehefrau Lexi (Bree Elrod) und deren Mutter Lil (Brenda Deiss) gewähren ihm schließlich die Unterkunft, die er dringend benötigt –, doch auf professioneller Ebene scheitert er immer wieder. Red Rocket beobachtet sehr genau einen sich immer wiederholenden Ablauf der sozialen Ablehnung, ja des Abstoßens. Es gibt Türen, die sich schließen, abwertendes Schwatzen, das unmittelbar nach Mickeys Abgang einsetzt. Den Direktverweis auf die Reden Donald Trumps, die der Film über den Fernsehbildschirm flackern lässt, sollte man nicht vorschnell als politischen Gegenwartsbezug lesen, dafür sind Bakers Filme zu austariert, zu eindringlich in ihrer Unmittelbarkeit.
Bakers Filme sind so auch immer ein Abarbeiten, ein Anfilmen gegen die Stigmata der sozial Unterprivilegierten. Bakers Haltung ist dem Gestus des Zeigens verpflichtet, nicht so sehr dem des emotionalen Erlebens. Er unterdrückt jede Sentimentalität, überhaupt ist ihm ein Blickwinkel fremd; bis in die unmittelbare Inszenierungsweise ist dieses Moment eindrücklich in der Form ausgedrückt: Eine frontal ausgerichtete und überaus statische Kamera ist diesem beobachtenden und feinfühligen Registrieren verpflichtet. Die Abwesenheit von Filmmusik ist in dieser Hinsicht ebenfalls vielsagend. Die Auszeichnung in Cannes für Anora – eine moderne Umwandlung von Pretty Woman (1999) – ehrt somit auch Bakers Gesamtwerk, knüpft dieser Film doch direkt an dieses Repertoire an. Der Film um eine Sexarbeiterin, die sich in den Sohn eines reichen russischen Oligarchen verliebt, ist eine verdrehte romantische Komödie, die Anleihen bei den Safdie-Brüdern nimmt. Der Palmen-Gewinn dürfte Baker nun endgültig international etablieren.