Notizen aus Cannes (2)

d'Lëtzebuerger Land vom 31.05.2024

Es lässt sich immer darüber streiten, inwiefern die Urteile einer Fachjury aus Filmschaffenden tatsächlich aussagekräftig sind über die Breite der Filmauswahl eines so prestigeträchtigen Festivals wie dem von Cannes. Von der überaus hohen Diversität, die die Filme, untereinander betrachtet, besitzen, ganz zu schweigen. Auf jeden Fall sind die Jury-Entscheidungen werbewirksame Momente, die der Karriere der Filme helfen. Aussagekräftiger als die hochgradig politisierte und selbstgefällige Oscar-Verleihung sind die Auszeichnungen in Cannes allemal, drücken sie doch ein stärkeres Moment cinephiler Kultur aus. Das diesjährige Festival stand besonders unter dem Zeichen des weiblichen Blicks und der bedächtigen Alterswerke. Die Goldene Palme gewann das US-amerikanische Drama Anora von Sean Baker. Der iranische Film The Seed of the Sacred Fig von Mohammad Rasolouf wurde mit einem Spezialpreis geehrt und erhielt den Preis der Filmkritik. Der Große Preis der Jury ging an den von der Luxemburer Firma Les Films Fauves koproduzierten indischen Film All We Imagine as Light – ein Beziehungsdrama um drei Krankenschwestern. Es ist der erste indische Beitrag in Cannes seit 30 Jahren.

Die 77. Ausgabe der Filmfestspiele an der Croisette ließ eine Tendenz für Weiblichkeit und Emanzipationsgeschichten erkennen, die sich auch in den Preisträgerfilmen spiegelt. Die Goldene Palme für Anora von Sean Baker ist ein erstes Beispiel. Der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur von Filmen wie The Florida Project (2017) und Red Rocket (2021) präsentiere einen „unglaublich menschlichen Film, der unsere Herzen erobert hat, uns lachen und hoffen ließ, der uns das Herz gebrochenen hat und dennoch nie die Wahrheit aus den Augen verlieren ließ“, so die Worte von Jurypräsidentin Greta Gerwig zu einem Film, der um die Beziehung zwischen einer jungen Frau und dem Sohn eines russischen Oligarchen kreist. Den Preis der Jury erhielt Emilia Pérez von Jacques Audiard, ein Genre-Hybrid aus Gangsterfilm und Musical, das diese gewagte Mischung indes sehr spielerisch handhabt. Emilia Pérez erzählt von der mexikanischen Anwältin Rita (Zoe Saldaña), die den besonderen Ruf genießt, auch die schwierigsten Fälle zu gewinnen. Nach anfänglichem Zögern erklärt sie sich schließlich auch dazu bereit, dem Drogenboss Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón) einen Neuanfang zu ermöglichen, als dieser sich einer geschlechtsumwandelnden Operation unterziehen will. „Me falta cantar. Me falta desear“, heißt es an einer Stelle; eine Dialogzeile, die den Sehnsuchtsgedanken und das Rhythmusgefühl des Films gut wiedergibt. Ganz im Zeichen der Diversität stand auch der Preis für Karla Sofía Gascón, sie ist die erste Trans-Frau, die in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, neben den Kolleginnen Selena Gomez, Adriana Paz und Zoe Saldaña für ihre schauspielerische Leistung in Emilia Pérez. Als bester männlicher Darsteller wurde Jesse Plemons in Kinds of Kindness geehrt. In dem neuen Film des Griechen Giorgos Lanthimos übernahm er gleich drei verschiedene Rollen, die doch ähnlich gelagert sind.

Den Preis für das beste Drehbuch erhielt Coralie Fargeat für The Substance – einen radikaleren, transgressiveren Beitrag hat der diesjährige Wettbewerb nicht gesehen. Fargeat erzählt in ihrem zweiten Spielfilm nach Revenge (2017) einmal mehr von dem Versuch einer weiblichen Emanzipation. Als feministischer Body-Horrorfilm knüpft The Substance an die frühen Werke David Cronenbergs und David Lynchs an. Zynischer, schwarzhumoriger und desillusionierter hat wohl kaum ein Film der vergangenen Jahre die Werbeindustrie und den Objektstatus der Frau in dieser betrachtet. Fargeat gestattet sich zunächst ein äußerst konturiertes Handlungsschema: Das Produkt „The Substance“, das dem Film seinen Titel verleiht, verspricht eine besondere Form der ewigen Jugend – der Verweis auf Oscar Wildes Dorian Grey ist auffällig gesetzt: Davon macht das Fitness-Model Elizabeth Sparkle (Demi Moore) gerne Gebrauch, nachdem ihr misogyner und schmieriger Manager Harvey (Dennis Quaid) sie wegen ihres fortgeschrittenen Alters abgesetzt hat. Die mysteriöse Substanz vermag eine jüngere, schönere und vollkommenere Version von Elizabeth zu erzeugen. Die einzige Bedingung dabei: Elizabeth muss mit ihrem zweiten Ich, Sue (Margaret Qualley), in tiefer Symbiose koexistieren und die Zeit teilen – eine Woche für Elizabeth, eine Woche für Sue. Diese Regel zu missachten, würde die „perfekte Balance“ zerstören. Sue aber will bald mehr, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.
Zunächst drängt in diesem Film alles, bis hin zur unmittelbaren Formensprache, auf äußerste Künstlichkeit: Den weiblichen Körper als Werbekörper, den Agathe Riedinger in ihrem Wettbewerbsfilm Diamond brut überaus sparsam und veristisch in der Erscheinung fokussiert hat, behandelt Fargeat äußerst formbetont und drängt damit auf die reinste Oberfläche in einer Welt der Oberflächlichkeit. Darin liegt bereits die Tiefe ihres Ansatzes: Fargeat konzentriert sich ganz auf die Frage der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls, dessen Störung sie mit formalsprachlichen Übersetzungen in dem Feld des body horror metaphorisiert. Die künstlich-bizarren Welten eines David Lynch, dessen Lost Highway Fargeat ganz direkt zitiert, kombiniert sie mit der ungemein affizierenden Ekelerregung des body horror, wie David Cronenberg das besonders in den Achtzigerjahren mit Filmen wie The Fly (1986) oder Dead Ringers (1988) betrieb. In The Substance setzt die Missachtung des natürlichen Laufs des Lebens den Horror frei; eine Missachtung von fest tradierten Vorstellungswelten, die von der Unterhaltungs- und Konsumindustrie genährt wurden. Fargeat bettet auch The Substance, ihren zweiten Film, in ein farbenstarkes Spektakel, das die grelle Palette ihres ersten Films Revenge wieder erinnern lässt. Das ist ein ganz selbstreflexives kritisches Moment der eigenen Schaulust im Film.

Bei der Preisverleihung nicht berücksichtigt wurden vor allem zwei Filme, die eher konventionell erzählt sind und weniger durch experimentelle Formensprache hervorstachen: The Apprentice, der erste englischsprachige Film von Ali Abbasi, und Limonov – The Ballad von Kirill Semjonowitsch Serebrennikow. The Apprentice zeichnet die frühen Jahre und den Aufstieg des jungen Donald Trump (Sebastian Stan) nach, der von seinem Mentor, dem Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong), die Anleitung zum Erfolg erhält. Lediglich drei einfache und überaus simplizistische Grundsätze sollen der ganzen Komplexität der Welt gerecht werden. Abbasis Film ist ein Hybrid-Werk, das allerlei Bezugsquellen vermischt. Das macht den Reiz dieser tiefschwarzen und zynischen Dekonstruktion einer pervertierten Form des amerikanischen Traums aus. Zum einen dienen als wichtigste Bezugsquellen Trumps gleichnamige Reality TV-Serie The Apprentice und sein Buch The Art of the Deal; beide machten ihn populär. Zum anderen verwischt Abbasi die Grenzen formal fast gänzlich, und zwar so, dass sich ein stilsicheres mockumentary herausbildet.

Viel transparenter ist Serebrennikows Limonov – The Ballad angelegt: Ben Whishaw gibt darin den russischen Dissidenten Eduard Weniaminowitsch Limonow, der in Charkiw aufwuchs und seinen Gedanken als Schriftsteller zum Ausdruck verhelfen konnte. Augenfällig ist das Interesse, das der Dissident Serebrennikow an dem Dissidenten Limonow bekundet – die Rohheit dieser Figur, ihre Ambivalenzen, ihre unsympathische Art machen das Faszinierende dieser hageren Gestalt für ihn erst recht aus. Rein oberflächlich als Polit-Thriller organisiert, unternimmt Limonov – The Ballad eine große zeitliche Rückschau, die von Russland und dem Ende der Sowjetunion erzählt. In einem seiner poetischsten Momente wird sogar recht sinnfällig die Idee der Zeitreise inszeniert.

Neben der Körperlichkeit waren auch die Nacktheit und die befreite Lust ein zentrales Thema in Cannes. Bei Sean Baker und bei Coralie Fargeat, besonders aber in Motel Destino von Karim Aïnouz, der mit seinem englischsprachigen Debütfilm Firebrand schon vergangenes Jahr in Cannes vertreten war. Motel Destino, der sich selbst als „tropischer Noir“ bezeichnet, erzählt von Heraldo (Iago Xavier), der nach einem Zerwürfnis mit seiner Bande fliehen muss und in dem Sexhotel „Motel Destino“ Unterschlupf findet. Der Erotik-Thriller handelt vom Animalischen, von befreiter Lust und Voyeurismus, entwickelt aber nur selten eine Aussagekraft. Auch die stilistischen Anleihen bei der Neo(n)Noir-Ästhetik von Nicolas Winding Refn erreichen nur selten die Größe, mit welcher der Däne operiert.

Grundsätzlich bestätigte sich auch dieses Jahr in Cannes die Tendenz, dass die jüngere Generation der Filmschaffenden sich im Wettbewerb durchsetzt. Die Veteranen eines einst modernistischen Kinos – Francis Ford Coppola, Paul Schrader, David Cronenberg oder noch der französische Filmemacher Christophe Honoré – gingen leer aus.

Honorés Marcello Mio ist eine Komödie über das schwierige Verhältnis von Chiara Mastroianni zu ihrem überlebensgroßen Vater Marcello Mastroianni, der Legende des italienischen Kinos der Goldenen Jahre. Doch auch über das crossdressing, das der Film als komödiantisches Potenzial nutzt, wirft Marcello Mio Fragen zum Transgender auf, die für den Film so womöglich nicht angestrebt wurden. Ansonsten erschöpft er sich in einer hermetischen Blase von Filmverweisen. Während Coppola sich mit Megalopolis ein womöglich letztes großes filmisches Denkmal setzen wollte, operiert Schrader in Oh, Canada viel bedächtiger, immerzu aber von der Frage des eigenen Nachlasses, der Angst vor dem Tod und der kollektiven Erinnerung umgetrieben. Überwiegend negativ rezipiert wurde David Cronenbergs The Shrouds um den trauernden Karsh (Vincent Cassel), der mittels hochmoderner Technologien mit seiner verstorbenen Frau Becca (Diane Kruger) weiterhin verbunden sein, ihrer Leiche sogar beim Verwesen zusehen will. Ein morbid-makabres Gedankenspiel ohne Hintersinn ist Cronenbergs neuer Film aber nicht. Zwar verzichtet Cronenberg auf das affizierende Moment des body horror, den er gleichsam den Kolleginnen Julia Ducourneau und Coralie Fargeat für eine feministische Lesart überlässt. Dennoch ist The Shrouds dem body horror verpflichtet; neben Cronenbergs letztem Film Crimes of the Future ist The Shrouds eine gedanklich stärkere Rückkehr zu seinen Anfängen. Um das Themenfeld der Trauer, das Cronenberg für Überlegungen um Verschwörungstheorien öffnet, entwickelt der 81-jährige kanadische Regisseur so verstörende wie anregende Bilder zur menschlichen Körperlichkeit und der Technologie als eine mögliche Utopie oder Anti-Utopie. Der zeitnahe Verlust seiner Ehefrau bildet die autobiografische Basis – Vincent Cassel ist bis ins äußere Erscheinungsbild Cronenberg nachempfunden –, auf der Cronenberg seinen hochintellektuellen, überaus sperrigen Film anlegt. Ein Erzählkonvolut, das sich besonders in der Mitte der Laufzeit des Films derart verknotet und in sich selbst verschlossen hat, dass eine Rekonstruktion der Handlung nahezu unmöglich erscheint.

Zum Abschluss der diesjährigen Filmfestspiele an der Croisette durfte der US-amerikanische Regisseur und Produzent George Lucas vergangenen Samstag die Goldene Palme für sein Lebenswerk entgegennehmen – sein langjähriger Weggefährte Francis Ford Coppola hielt die Laudatio. Der Schöpfer des popkulturellen Phänomens Star Wars wurde erst kürzlich achtzig Jahre alt. Neben Coppola war Lucas ein maßgeblicher Wegbereiter für die Erneuerung des US-Kinos der Siebziger- und Achtzigerjahre. Die neue kommerzielle Ausrichtung Hollywoods hat gerade der einstige Indie-Filmemacher nachhaltig geprägt.

Marc Trappendreher
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