Dass Filmgeschichte immer auch eine technologische Geschichte ist, ist evident. Ein Hollywood-Filmgenre hat sich insbesonders mit der Einführung des Tonfilms in den Dreißigerjahren fest etabliert: das Musical. Die Tanz- und Gesangsnummern, die die Bewegung als künstlerische Ausdrucksform feiern, verleihen dem Musical gerne den Status, das reinste aller filmischen Genres zu sein. Das Ausbrechen in obligatorische Gesangs- und Tanznummern, die die die Filmhandlung unterbrechen, ist das typischste Erkennungsmerkmal eines Musicals. In erzählökonomischer Hinsicht wurden diese Nummern anfänglich als überflüssig gewertet, doch wurden diese zusehends zu starken Funktionsträgern der filmischen Erzählung: Sie stellen innere Monologe der Figuren dar, eröffnen ihren Wunschraum, sie antizipieren oder kommentieren das filmische Geschehen, sie bieten sogar weitere Deutungsebenen – sie widersetzen sich damit der vorschnellen Kritik und üblichen Wahrnehmung, das Musical sei nur eine eskapistische Illusion, die zur unbesonnenen Weltflucht einlädt. Man denke da nur an die Nummer „Remember My Forgotten Man“ aus Mervyn LeRoys Gold Diggers of 1933 (1933), die von dem Schicksal verwitweter Frauen und gefallener Soldaten des Ersten Weltkriegs erzählt. Das sogenannte Show-Musical (backstage variety) bildete die wohl populärste Spielart des Genres aus, inhaltlich kreisen Filme dieser Art häufig um die Inszenierung einer Bühnen-Show oder um die Herstellung eines Film-Musicals selbst. Es sind utopische Traumwelten, die da aufgemacht werden, den Status von Hollywood als Traumfabrik metareflexiv bestätigend. „Let‘s face the music and dance“ singt noch Fred Astaire zu Ginger Rogers in Follow The Fleet (1936) – eine Umkehrung der bekannten Redewendung als Einladung zum Tanzen, um wenigstens für einen Moment unangenehme Tatsachen zu vergessen. Dem klassischen Erzählmodell entsprechend vermittelt das Musical, dass mit dem Ruhm der beruflichen Karriere die Erfüllung der heterosexuellen Romanze einhergeht. 42nd Street (1933) unter der Regie von Lloyd Bacon ist ein bis heute nicht vergessenes Musterbeispiel dieser Erzählung, das mit mehreren Broadway-Aufführungen ein intermediales Vermächtnis hinterlassen hat. Darin wird das Bild der märchenhaften Liebesgeschichte, sowie das einer idealtypischen Karriere der weiblichen Hauptfigur besonders formvollendet präsentiert, um so die Ideale des „American Way of Life“ zu reflektieren.
Seit den Siebzigerjahren werden neue Ansätze deutlich: Das tradierte „happy-go-lucky“-Narrativ wird zugunsten einer pessimistischeren Grundhaltung ersetzt. Die sogenannten sad clowns wie in Martin Scorseses New York, New York (1977) oder Cabaret (1972) von Bob Fosse bestimmen das Geschehen – Folie à deux, die 2024 erscheinende Fortsetzung des Films Joker aus dem Jahr 2019 mit Lady Gaga und Joaquin Phoenix, weist augenfällig in diese Richtung. Das Showbusiness als negative Utopie in Filmen entwickelte sich im Zuge des Paramount-Urteils und der Zerschlagung des klassischen Studiosystems Hollywoods immer weiter. Das in diesem Zusammenhang schon oft totgesagte Genre des Musicals erlebte seine Blütephase zweifellos von 1930 bis 1960 – ganz verschwunden ist es indes nie. Vielmehr hat es sich ausdifferenziert und weiterentwickelt. Das Musical im engeren Sinne lebte so weiter bis heute, mit Filmen wie Moulin Rouge (2001), Mamma Mia (2008, 2015), Lala Land (2016) oder noch The Greatest Showman (2017), die alle dem märchenhaften Charakter verpflichtet sind. Es geht darum, den sozialen Aufstieg oder den Zusammenschluss der Gemeinschaft in hochgradig choreographierten und ausschweifenden Gesangs- und Tanzszenen immer wieder zu bejahen. Ferner waren Musical-Nummern ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die sogenannte Disney-Renaissance der Neunzigerjahre, die die Gattung des Animationsfilm und das Genre des Musicals in wesentlichen Punkten zusammenführte. Unter dem Zeichen des musikalischen Biopics hat sich sogar ein neues Filmgenre neben dem Musical etabliert, das wesentliche Muster des Musicals übernommen hat.
Heute hat sich das Bild der Unterhaltungsindustrie erheblich gewandelt. Desillusioniert und dekonstruktivistisch stützen sich zeitgenössischere Filme auf „wahre Begebenheiten“, weil der reine Fiktionsstatus eines Werkes in Hollywood allein nicht mehr zu genügen scheint. In diesem Zuge ist es mitunter erklärbar, wie diverse dramaturgische Grundkonstellationen des Musicals im Biopic einer realen Künstlerfigur neu ausgerichtet wurden: Nicht so sehr dem glanzvollen Aufstieg und der Happy End-Setzung gilt hier das Augenmerk, sondern dem Abstieg. Dabei machen sich entsprechende Filme eine narrative Grundstruktur zueigen, die man aus einem anderen klassischen Hollywood-Genre der Dreißigerjahre kennt: dem Rise-and-Fall-Narrativ des Gangsterfilms. Das ist das einschneidende Moment der musikalischen Biopics, sie injizieren den einstigen Mustern des klassischen Musicals als metafiktionales Genre eine zynisch-desillusionierte Komponente, die nicht mehr dem naiven Aufsteiger-Mythos und dem Festhalten an die wundersame Wirkung des American Dream verpflichtet ist. In dieser Akzentuierung der Differenz ist das musikalische Biopic freilich nicht weniger konventionell und formelhaft angelegt als das klassische Musical. Als fiktionalisierte Biografie über eine künstlerische Persönlichkeit der Musikszene folgen besonders jüngere Filme wie Bohemian Rhapsody (2018) oder noch Bob Marley: One Love (2024) den wichtigsten Lebensstationen der Künstlerfiguren; an sie wird das Publikum angebunden, mit ihnen werden die Schicksalsschläge durchlebt.
Back to Black unter der Regie von Sam Taylor-Johnson um die englische Sängerin Amy Winehouse, die im Alter von nur 27 Jahren an einer Alkoholvergiftung starb, reiht sich in diese Linie ein. Auch hier wird vom Showbusiness als mephistophelisches Tauschgeschäft erzählt, der Weltruhm gegen die Seele, die narrativen Bögen aus Hagiographie und Dekonstruktion gleichermaßen umfassend. Es geht in Back to Black um die Exzesse eines ungezügelten Lebens zwischen Showgeschäft und Privatleben, zwei Sphären, die sich nachhaltig durchdringen und die Brüche anschaulich machen sollen: der Abstieg in die Drogensucht, die unkontrollierten Gefühlsausbrüche, die toxische Beziehung zu ihrem Partner Blake Fielder-Civil. Amy Winehouse ist die Frau, die selbstbestimmt ihr Leben führen will, sich von dem Mann aber nicht lossagen kann. Wie auch im klassischen Musical gibt es hier ausschweifende Musiknummern, besonders der Live-Auftritte, die ein Spannungsverhältnis aufbauen sollen: Die Songs kommentieren die Handlung, wie im Musical auch, sie präsentieren sich hier spezifisch als therapeutisches Vehikel: Amy Winehouse hat aus ihrem Leben ihre Kunst gemacht und umgekehrt – ein ganz reziprokes Verhältnis. In diesem selbstzerstörerischen Gestus liegt mithin eine neue Vermarktungsstrategie, die sich auf die Popularität der Künstlerfigur stützt.
Das Problem dieses neuen Biopics um Amy Winehouse liegt nicht darin, dass es die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion aufhebt – aus dieser Ambivalenz nährt sich nahezu jedes Biopic – sondern an seinem begrenzten Fokus: Sam Taylor-Johnson zeigt das Leben des Popstars als ein ausschließlich destruktives Abhängigkeitsverhältnis aus Ausbeutung, Manipulation und Unterwürfigkeit. Man konnte ganz Ähnliches in Andrew Dominiks Blonde (2022) um den einstigen Filmstar Marylin Monroe beobachten. Wenn dem Biopic Back to Black somit etwas gelingt, dann nur die hier präsentierte Vita als den einzig möglichen Lektüreschlüssel für die Kunst zu setzen. In seiner Konzentration auf die Beziehungsprobleme, die diese Sängerin durchläuft, auf die Zuspitzung der dramaturgischen Leitlinien, liegt auch seine wesentliche Reduktion, die dem klassischen Musical aufgrund seines reinen träumerischen Fiktionscharakters so nicht innewohnt.