In Cannes soll die Filmqualität im Vordergrund stehen, Politik nur auf der Leinwand ausgetragen werden, nicht auf dem das Festivalgelände. Obwohl Festivaldirektor Thierry Frémaux bei der Filmauswahl eine Normierung nach Geschlechtergleichheit vehement ablehnt und ausschließlich Qualitätsansprüche als Maßstab fordert, ist eine Tendenz bei der Auswahl doch erkennbar, die dieses streitbare Moment geschickt zu umfahren versucht: Bisher sind fast alle Filme aus der Frauenperspektive erzählt. Das gilt nicht nur für eine Vielzahl der Filme im Hauptwettbewerb, sondern auch für große Action-Blockbuster, wie zum Beispiel Mad Max: Furiosa.
Im Wettbewerb um die Goldene Palme gibt es etwa Bird, den neuen Spielfilm der britischen Filmemacherin Andrea Arnold: Bird erzählt von der zwölfjährigen Bailey (Nykiya Adams), die mit ihrem Halbbruder bei ihrem Vater (Bary Kheogan) in einem besetzten Haus lebt, während die Mutter mit drei weiteren Kindern nicht weit entfernt mit einem gewalttätigen Liebhaber zusammenlebt. Perspektiven wollen sich für die junge Bailey nicht ergeben. Aufgebrochen wird diese Tristesse, als Bailey auf den mysteriö-
sen Bird (Franz Rogowski) trifft, einen vogelfreien Sonderling, der ihre Neugier weckt und ihr Hoffnung spendet. Der Handlungsort Khent ist für Arnold nicht neu, bereits in Fish Tank explorierte sie das Milieu in Bezug auf die Adoleszenz zwischen Reife und Schutzbedürfnis. Arnold reiht sich auch mit Bird in eine Tendenz des britischen Kinos ein, das sozial-realistisch ist, aber die Pforte zur Fantasie aufmacht und sehr spielerisch-leicht eine Form des Magischen Realismus bedient. Es ist dieses nahtlose Oszillieren zwischen dem halbdokumentarischen Charakter der Bilder, die auch und besonders durch Smartphone-Aufnahmen gestiftet werden, hin zu poetisch aufgeladenen Einstellungen, die die Natur als Metapher für die Freiheit gegen die harte Lebensrealität eines sozial unterprivilegierten Milieus stellen. Dabei hält der Filmtitel sein Versprechen, nicht nur mit dem Namen der Filmfigur, nicht nur über die Bezüge zu allerlei Vogelarten, sondern auch durch den Erzählfluss, der eine nahezu fliegende Bewegung annimmt.
Der Blick auf ein sozial benachteiligtes Milieu bestimmt auch den Erstlingsfilm der Französin Agathe Riedinger. In Diamond brut begeben wir uns in die sonnendurchflutete Mittelmeerstadt Fréjus, wo die neunzehnjährige Liane (Malou Khebizi) sich als Influencerin einen großen Namen zu machen erhofft. Sehr viel stärker als Arnold an einer harschen Coming-of-Age-Geschichte orientiert, betrachtet Riedinger die Ideologie der Werbekörper, die sich mit dem Phänomen der sozialen Netzwerke etabliert hat. Liane träumt vom großen Durchbruch, den die Teilnahme an einer Reality-TV-Show in Aussicht stellt. So groß Lianes Illusionen sind, so klarsichtig und desillusioniert blickt Riedinger auf Abhängigkeitsverhältnisse und wie sich die Hoffnungen der einen von den Hoffnungen der anderen nähren, ohne dass jemand sich über größere Sinnzusammenhänge klar würde – ein ganz toxisches Verhältnis.
Filme, die sich in erster Linie über die Wirkungsmacht der Form, den audiovisuellen Sinneseindruck ins Bewusstsein eingraben, gibt es noch. Pigen med nålen (The Girl with the Needle) des schwedischen Regisseurs Magnus van Horn ist ein solcher Film: Das historische Drama basiert auf dem Leben der dänischen Serienmörderin Dagmar Overby, die hier von Trine Dyrholm verkörpert wird. Doch es ist die fiktive Frauenfigur der Karoline, an die wir angebunden werden. Kopenhagen in den Wirren der Nachkriegsjahre des Ersten Weltkriegs: Die junge schwangere Karoline nimmt eine Stelle als Amme bei einer älteren Frau namens Dagmar an, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dagmar betreibt unter dem Deckmantel eines Süßwarenladens eine geheime Adoptionsagentur, die benachteiligten Müttern hilft, ihre ungewollten Neugeborenen in Pflegefamilien unterzubringen. Karoline freundet sich mit Dagmar an, doch schon bald wird sie mit der albtraumhaften Realität konfrontiert, in die sie unwissentlich hineingeraten ist. Mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen eröffnet Van Horn eine kompromisslose und schonungslose Ästhetik der Trostlosigkeit, die den nur lose zu Grunde liegenden kriminalistischen Plot in Bildwelten Carl Theodor Dreyers oder Ingmar Bergmans überführt. In der Grausamkeit einer Kopenhagener Gesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit sucht der Film in der Form doppelt – in Strenge und in Konzentration – nach der Schmerzgrenze.
Nicht so bei Coppola: Sein neuer Film lehnt Strenge und Konzentration ab, sein Titel Megalopolis indes ist Programm: Das Zügellose einer dekadenten machttrunkenen Stadt soll beschrieben werden. Seit rund vierzig Jahren hat Francis Ford Coppola, der Meisterregisseur von Filmen wie Apocalypse Now oder The Godfather, diesen Film erträumt. Die Gigantomanie der Produktionsumstände spiegelt nahezu den Inhalt dieses neuen Werkes, das womöglich auch Abschiedsfilm ist: Cesar Catilina (Adam Driver) soll die finanziell missliche Lage von New York City durch umweltbewusste Modernisierungsschübe in eine Utopie verwandeln. Doch dem Stadtoberhaupt Franklyn Cicero (Giancarlo Esposito) ist Cesar ein Dorn im Auge. Coppola erzählt viel, das Auseinanderklaffen von Form und Inhalt ästhetisiert er selbstreflexiv. Es ist gerade das Camp-artige des Films, das die Oberhand gewinnt. Dafür genügt schon der Blick auf das äußere Erscheinungsbild des Films, das drei verschiedene Stilebenen nebeneinanderstellt: Da gibt es das antike Rom, das moderne New York der Zwanzigerjahre und ein futuristisches Stadtdesign, das den Tendenzen des urban carb nachstrebt. Megalopolis will obendrein von der großen Fallhöhe eines visionären Träumers erzählen, der vor orangeroten Sonnenuntergängen über Zeit und Raum philosophiert – es ist diese Dimension des Tragischen, das Coppola immer wieder mit der überbordenden Dekadenz der Macht, die er als zeitlos betrachtet, in Kontrast setzt. Der Film gibt sich keine Blöße, die Grenzen zwischen Kitsch und Camp sind nicht immer klar zu bestimmen, der Formüberschuss indes zeugt von der Eigenwilligkeit und der Überzeugung dieses Veteranen des amerikanischen Kinos, dass Film nur persönlich sein kann, die ganze künstlerische Entscheidungsgewalt hat er für diesen Film auf sich vereinen können.
Mit Blick auf das Überbordende, das Ausfransende erscheint es nun umso spannender, dass der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos nach Poor Things den großen Siegeszug vom Indie-Kino hin zur Main-stream-tauglichen Amerikanisierung beschritten hat. Als Triptychon angelegt, vereint Kinds of Kindness drei einzelne Geschichten in einem Film – allein dies mag ein Indiz dafür sein, dass Lanthimos, der Meister der Weird Greek New Wave, der skurril-kreativen Gewalt seiner Einfälle nicht mehr Herr wird. Dabei hat der Regisseur seine festen Themenbausteine aus Machtstrukturen seit den Anfängen nicht aufgegeben: Er passt sie vielmehr an eine starbesetzte, weniger sperrige Strenge an, die er mit Filmen wie Dogtooth oder Killing of a Sacred Deer bei Michael Haneke oder Stanley Kubrick wirkungsmächtig in die Gegenwart gesetzt hatte. Nun sind es vielleicht die Zeitumstände, die ihn von einer immer größer werdenden Gefolgschaft profitieren lassen. Spätestens mit Poor Things war eine Wende markiert, hat der Regisseur das Register gewechselt: Aus der Ernsthaftigkeit der griechischen Tragödie hat er sich in ein Feld der absurd schwarzhumorigen Komödien begeben, die versuchen, möglichst viele heute relevante gesellschaftliche Problemfelder zu betrachten: Dysfunktionale Beziehungen aus toxischer Männlichkeit und Trugbildern scheinen einen roten Faden innerhalb der einzelnen Episoden auszubilden, dazu fügen sich Aspekte des bodyshaming, der Sektenbildung und starrer Glaubenssysteme. Es ist gerade dieses Abrufen einer Vielzahl von Elementen, die die Einzelfilme derart ausufern lassen. Die Bezüge zwischen den Filmen müssen immer wieder hergestellt werden, Einzelepisoden wertet man untereinander, die Radikalität und Konzentration von Lanthimos’ früheren Werken sind hinter diesem Konvolut verschwunden.
Paul Schrader hat mit Oh, Canada den Roman von Russell Banks adaptiert. Es geht um den Sinn eines menschlichen Lebens, das nach dem Maßstab der Äußerlichkeiten bewertet wird. Richard Gere spielt den krebskranken Dokumentarfilmer Leonard Fife, der im hohen Alter auf sein Leben zurückblickt und es für die Nachwelt in einem langen Interview festhalten will. Der überaus konstruierten Film, der zwischen mehreren Zeitebenen wechselt, zeigt immer neue Facetten aus dem Leben dieses Menschen; verschachtelt in Rückblenden über mehrere Jahre hinweg, gewinnt die Multiperspektivität die Oberhand. Die wichtigste Bezugsquelle dieses Films ist Citizen Kane, den Schrader auffällig zitiert. Man könnte Oh, Canada wohl als ein Alterswerk sehen, in dem Schrader den autobiografischen Lektüreschlüssel zu seinem filmkulturellen Erbe liefert. Es ist ein sehr theoretisch-intellektuell konstruierter Film – zum Beispiel führt er Susan Sontags Schriften über das fotografische Abbild an. Dies dürfte nicht weiter verwundern, Schrader kommt ursprünglich aus der Filmwissenschaft, bevor er eine Karriere als Drehbuchautor begann und mit Taxi Driver berühmt wurde.
Außerhalb des Wettbewerbs stand in Cannes auch großes Blockbusterkino auf dem Programm: Furiosa (Anya Taylor Joy) ist eine Westernheldin, die weder zur Zivilisation, noch zur Wildnis gehört. Sie ist ein Mischwesen im Dazwischen, heimatlos, man denke an die Schlusseinstellung von The Searchers (1956). Ihrer Gemeinschaft entrissen, wird sie von einer Biker-Gang, die von dem Kriegsherrn Dementus (Chris Hemsworth) angeführt wird, aufgezogen; schweigsam, wartend sinnt Furiosa auf Rache. Die Mad Max-Reihe aktualisiert die Formensprache des Westerns in einem postapokalyptischen Setting. Aus Pferden wurden Motorräder, ansonsten aber wird immer noch viel von Gerechtigkeit und Rache gesprochen. Seit dem Originalfilm von 1979 mit Mel Gibson führt der Regisseur Chris Miller diese Reihe fort, Mad Max: Furiosa ist der zweite Teil einer Neuauflage der Vorgängerfilme, die eine weibliche Hauptfigur in ein männerdominiertes Genre integriert. Das Diktat der Handlung ist wortwörtlich zielgerichtet, weil die Bewegungen der Fahrzeuge die Richtung und den Rhythmus des Films vorgeben. Die Action steht im Vordergrund, die zum Motor der Erzählung wird.
Bereits vor dem Festival war von einer zweiten #Metoo-Welle in Frankreich die Rede, die die Filmfestspiele an der Croisette erreichen könnte. Auslöser war eine Rede der Schauspielerin Judith Godrèche bei der César-Verleihung Ende Februar, die die Diskussion um strukturelle Gewalt im Filmgeschäft wieder hat aufkommen lassen. Dass ausgerechnet Quentin Dupieux’ Film Le second acte das Festival eröffnete, der die politische Korrektheit angreift, mag für empörende Reaktionen sorgen, ein werbewirksames Moment für das Festival ist in diesem Zusammenhang aber gegeben. Auf jeden Fall ist der neue Film eine weitere Steigerung in Dupieux’ absurd-selbstreferenziellem kinematografischen Universum. Gerade die scheinbare Sinnlosigkeit legt immer neue Facetten in einem Film frei, der die Schauspielerei und das Filmgeschäft selbst zum Thema hat.