Ihre Werke spielen mit der Wahrnehmung. Die vielschichtige Schau Phantom Limbs, die sich über drei Räume erstreckt, zeigt rund 30 kleinteilige Werke der in Mexiko geborenen und in Spanien und Luxemburg wirkenden Künstlerin Hisae Ikenaga. Es sind Material- und Formstudien aus den letzten 15 Jahren, die in der von Charlotte Masse kuratierten Ausstellung aktuell in der Konschthal in Esch zu sehen sind.
Rund ein Jahr lang hat Ikenaga an der Ausstellung gearbeitet. Während einer Künstler-Residenz im Bridderhaus entstanden schon erste Entwürfe, wie die kleinen zerschnittenen Vasen aus Ton, die einem wie in einem archäologischen Museum erst am Ende des Ausstellungsrundgangs ins Auge springen werden.
Der namensgebende Titel, Phantom Limbs, stammt ursprünglich aus der Medizin und beschreibt das Gefühl, wenn ein amputiertes Glied noch irgendwie lose mit dem Körper verbunden ist. Durch das Spiel mit Akkumulation und Collage von teils abstrakten, teils erkennbaren Formen regen Ikenagas Werke dazu an, sich neue Verwendungen für deren vermeintlich vorgegebene ästhetische und mechanische Eigenschaften vorzustellen.
Charlotte Masse, die bereits die Schau von Tina Gillen in der Konschthal kuratiert hat, kennt die Räumlichkeiten genau. So hätten sie sich gemeinsam die Kunstwerke angeschaut, um auszuloten, wie sie die Ausstellung an die Räumlichkeiten anpassen könnten, erläutert die Kuratorin beim Gang durch die Schau. Eine der Ideen der Konschthal ist es, mit jeder Einzelausstellung die Architektur des ehemaligen Möbelhauses in Esch, dem Espace Lavandier, in Frage zu stellen. Dies gelingt dem Duo auf faszinierende Weise. Jeder Raum zeigt so eine andere Facette ihrer Kunstwerke und dennoch greifen die Werke ineinander, sind die Übergänge zwischen den Sälen fließend.
So ist ein mit Edelstahlrohren durchzogener kleiner Raum begehbar. „Hier habe ich Rohre verwendet, aber indem ich sie verbogen und damit den gesamten Raum durchzogen habe, sodass diese wirklich mit der Architektur spielen“, erläutert Hisae Ikenaga. Die Edelstahlrohre erinnern an Geländer eines Krankenhauses oder öffentlichen Raums. Irgendetwas zwischen Möbeln und Architektur, die uns Hilfestellungen bieten, durch die Räume zu gelangen. Die Installation wurde speziell für die Ausstellung in der Konschthal aus Edelstahl angefertigt.
Zu Beginn des Rundgangs treffen die Besucher/innen auf Werke ihrer Serie Subtle Oblivion und Installationen. Es sind Gerüste aus Stahlrohren und Holz, an denen wie beiläufig Alltagsgegenstände wie ein Schlüssel, ein Schirm, ein Hundehalsband oder ein Handtuch hängen. Die Möbelstücke erscheinen nicht nur ihrer ursprünglichen Funktion entfremdet, sie scheinen auch eine dritte Dimension zu haben, erscheinen aufklappbar.
André Bretons surrealistisches Manifest kommt einem in den Sinn: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“
„Da ich es mag mit Dingen zu arbeiten, die bereits verarbeitet sind, und diese neu anzuordnen, bin ich natürlich durch den Surrealismus und den Dadaismus geprägt – auch, weil mir die ironische Seite daran gefällt. Ich mag es, über Anordnungen und Situationen zu lachen, die erstmal widersprüchlich erscheinen“, so Ikenaga. „Mich interessiert es, eine neue Geschichte rund um ein Ausstellungsstück zu erzählen.“
Es sind aber auch Einflüsse aus dem Design eingeflossen, von Möbeln und Objekten. Denn fast alle Dinge, die uns umgeben, haben sehr viel zu tun mit deren Herstellung und der Ökonomie der Dinge ... Es sei kurios zu sehen, dass sie nicht immer einen ästhetischen Sinn haben. „Am Ende ist es so: Wenn sich das Design nicht in eine Produktionskette eingliedern lässt oder einer Produktion gehorcht, die schnell geht, wird die Form ja einfach geändert“, gibt Ikenaga zu bedenken „Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich an Alltagsgegenständen. Mich interessieren diese Gegenstände und unser Verhältnis zu ihnen“, erklärt die Künstlerin. Deren Ursprung auf den Grund zu gehen, herauszufinden, wieso sie gerade diese Formen haben, das treibe sie an.
Seit langer Zeit arbeitet Ikenaga mit Holz, transformiert Materialien und deren Formen, um ihnen ihre ursprüngliche Funktion zu nehmen. „Später habe ich begonnen mit Metallrohren zu arbeiten, in dem ich sie mit anderen Möbeln mische, die etwa eine Plastikoberfläche haben“, so die Künstlerin, die dabei auf ihre Serie Subtle Oblivion verweist. Manche der verwendeten Materialien seien sehr billig, einige kaufe sie gar bei Ikea ein.
In besagter Serie verbinden sich Möbelstücke zu einer Skulptur an der Grenze zwischen Kunst und Design. Die Künstlerin sammelt, verändert und kombiniert so Objekte aus der Welt der Industrie wie auch Alltagsgegenstände zu hybriden Kompositionen mit ambivalenten Bedeutungen. Viele dieser Arrangements erinnern an Bauhaus-Dekor.
Bereits in Mexiko habe sie damit angefangen auszuprobieren, wie sich die Struktur der Gegenstände verändern lässt. Am Ende stehen Mischkonstrukte, die die Wahrnehmung des Betrachters seltsam herausfordern. Ikenaga macht sich einen Spaß daraus, die Objekte nochmal ganz umzufunktionieren, hängt ein Kleidungsstück daran, sodass sich eine scheinbar funktionslose Skulptur in einen Alltagsgegenstand verwandelt, versieht die Installationen auf diese Weise mit einem ironischen Kommentar.
„Es ist so, als würde ich das Alltägliche in Kunst verwandeln und diese Kunst wiederum in Alltägliches. Mir gefällt es auch über die Schnelllebigkeit unseres Lebens und der damit verbundenen Entscheidungen nachzudenken. Wir nehmen die Gegenstände wahr und lassen dort etwas liegen“, so Ikenaga.
Der nächste Raum sieht aus wie ein Experimentier-Labor. Hier finden sich zahlreiche Miniaturen und Einzelteile, die sie aufgesammelt hat: Messbehälter, gläserne Violen oder Käse, Butter, ein aufgeschlagener Blätterteig aus Keramik ... Es ist etwas zwischen einem Labor, einer Küche und – mit den kleinen Keramik-Teilen – einem Puppenhaus. Auf manche wirke es gar wie ein Bereich, in dem Tiere zum Konservieren eingelegt werden.
Diese Gruppierung erlaube es, ihre Arbeit an verschiedenen Materialien herauszustellen, so Kuratorin Masse. „Dies ist eine Installation, die ich zwei Jahre lang überarbeitet habe. Ich habe sie an vielen Plätzen gezeigt und sie ist zentriert darauf, wie man mit Keramik umgeht, dieses Material verarbeitet. Aber es gibt auch viele Utensilien aus der Küche“, erzählt Ikenaga. Hier können die Besucher/innen genau nachvollziehen, wie Formen entstehen. „Küchenutensilien und der Prozess der Keramikverarbeitung ähneln sich“, sagt Ikenaga, etwa der Apparat, mit dem man Zement mische und die Nudelmaschine.
Im letzten Saal werden zerschnittene Keramik-Arbeiten regelrecht auf den Sockel gehoben. Präsentation und Atmosphäre in dem Raum wirken genau inszeniert: „Man hat wirklich das Gefühl, in einem archäologischen Museum zu sein“, sagt Charlotte Masse, die diese Anmutung bewusst so konzipiert hat.
Mit Black Artischoke I-II-III (2024) setzt sich Ikenaga über die Konventionen der traditionellen Töpferei hinweg, indem sie ihren Objekten die Eigenschaft des Behältnisses entzieht und sie zu Studienobjekten werden lässt. In dem Raum befinden sich, geschützt durch einen weißen Vorhang, drei große schwarze aufgeschnittene Tonkrüge. Es sind archäologische Objekte, die zerschnitten wurden; eine sehr schwierige Handarbeit. Die drei zerschnittenen Tontöpfe entblößen so ihr Gehäuse, Artischocken gleich. Dadurch, dass sie die Krüge aufschneidet, nimmt sie auch ihnen ihren Ursprungs-Zweck: eine weitere Art, Neues zu schaffen.
Mit gezielten Abwesenheiten ruft die Künstlerin unser kollektives Gedächtnis für Objekte und ihre Geschichten auf und dekonstruiert gleichzeitig deren gewohnte oder übliche Zuschreibungen, um ihnen eine Dimension jenseits der Alltagsästhetik zu verleihen.
Die Schau offenbart die präzis durchdachte, enge Zusammenarbeit zwischen Kuratorin und Künstlerin. Phantom Limbs ist eine beeindruckende Werkschau, die die Vielseitigkeit von Ikenagas Werk zeigt und in den Räumlichkeiten des ehemaligen Möbelhauses beeindruckend wirkt.