Die 60. Kunstbiennale in Venedig hat sich unter der Leitung eines erstmals queeren Kurators, des Brasilianers Adriano Pedrosa, dezidiert dem Antikolonialismus verschrieben und zeigt in diesem Jahr vor allem Werke aus dem sogenannten globalen Süden. Als Nebenerscheinung des Nahostkriegs wurde vom Kollektiv Art not genocide alliance (ANGA) zum Boykott des israelischen Pavillons aufgerufen, obwohl die Künstlerin Ruth Patir, die diesen ursprünglich mit ihrer Ausstellung „(M)otherland“ bespielen sollte, kritisch gegenüber der Regierung Netanjahu eingestellt ist und mit ihrem Beitrag keine nationalistische Position vertritt, sondern das Primat der Mutterschaft hinterfragt.
Die beiden Ausstellungen im Mudam, Portraits von Sin Wai Kin und Air Conditioning von Lawrence Abu Hamdan im Untergeschoss lassen sich als Echo dieser internationalen Kunsttrends lesen. Die quietschbunten Portraitvideos der Kanadierin Sin Wai Kin, die die nicht-binäre Künstlerin eigens für das Foyer des Mudam konzipiert hat, wirken harmlos verspielt und doch irritierend. Sie greift in der Serie auf bekannte kunsthistorische Motive wie die Mona Lisa zurück, ihre Arrangements, wie in einer Darbietung vor Vorhängen installiert (Kuratorin: Marie-Noëlle Farcy), hinterfragen Identität und spielen mit der Wahrnehmung. Die als Loop montierten Bilder der von Sin Wai Kin verkörperten Figuren zitieren Werke verschiedener Epochen und bieten Imaginationsflächen für Identitäts- und Realitätsvorstellungen. So spiegelt sich in einem Werk, Bezug nehmend auf Caravaggios Narziss, ein Jüngling mit rotem Haar in einem See. Vorab stoßen die Besucher/innen im Foyer des Untergeschosses auf eine weiße Kopfbüste mit orangener Perücke auf grasgrünem Boden. Zwischen Künstlichkeit und David Lynch wirken die Videos bedrohlich und anziehend zugleich. Die verlangsamten Bewegungen ihrer Protagonist/innen sprengen die Grenzen des Porträts, insofern sie dazu ermutigen, zu reagieren und die Blicke gar zu erwidern.
Mit Air Conditioning von Lawrence Abu Hamdan geht das Mudam noch einen Schritt weiter als die Biennale, wiewohl sein Buch Dirty Evidence im Shop der großen Kunstschau in Venedig auch direkt neben ihrem Katalog beworben wird. Der Titel bezieht sich auf Abu Hamdans Definition von „Beweisen“, die ihren Wahrheitswert aus ihrer Unzulässigkeit vor dem „Gesetz“ beziehen. Gerade der figurative Schmutz und die verstörende Schmutzigkeit der Beweise sollen hier die Erkenntnis eröffnenden Anstöße geben. Der Raum der Kunst ist für ihn ein Ort, an dem die Aufmerksamkeit auf reale gesellschaftspolitische Bedingungen gelenkt werden kann, um diese infrage zu stellen.
Die über 54 Meter lange Installation Air Conditioning, die derzeit (und noch bis zum 9. Juni) im Untergeschoss zu sehen ist (Kuratorin: Vanessa Lecomte), geht auf die Zeit zwischen Mai 2020-2021 zurück. Anhand langwieriger Recherchen untersuchte und kompilierte der Künstler offen verfügbare Daten aus der digitalen Bibliothek der Vereinten Nationen, um die „Verletzungen“ des libanesischen Luftraums durch die israelische Luftwaffe über einen Zeitraum von 15 Jahren (von 2007 bis 2021) zu kartografieren. Bettina Steinbrügge, seit April 2022 Direktorin des Mudam, hat das Werk des jordanischen Künstlers vor Kurzem für die Sammlung des Hauses erworben.
Jeder der 365 Zentimeter langen Fotoabzüge steht für ein Jahr, jeder Zentimeter entspricht einem Tag. Höhe und Dicke der Wolkenschicht geben Anzahl der Flugzeuge beziehungsweise Dauer der Flüge wieder. Das bedrohliche Dröhnen der Kampfjets, das Brummen der Aufklärungsdrohnen, ein ständiges Surren der Minidrohnen stellt Abu Hamdan durch die Abtönung und Dichte der Wolken dar. So beleuchte der Künstler „die traumatische Lärmbelästigung auf Menschen, die ihr systematisch und über längere Zeiträume hinweg ausgesetzt sind“.
Der sich selbst als „Audio-Ermittler“ und „Geräuschdetektiv“ bezeichnende Künstler Abu Hamdan dokumentiert mit Air Conditioning nach eigenen Angaben die „atmosphärische Gewalt“, die von Israel ausgehe. Auf der Bildserie, die sich kreisförmig über eine lange Wand erstreckt, ist ein schier endloser, von Rauchwolken bedeckter Horizont zu sehen. Besucher/innen können anfangs über Kopfhörer den Geräuschen lauschen.
In der begleitenden Broschüre liest man in einem Interview des Journalisten Finn Blythe mit dem Künstler, dass der aus hunderten von Amateurclips zusammengestellte Film „die täglichen Übergriffe“ neben der Webseite, auf der diese Daten veröffentlicht wurden, „fünfzehn Jahre singularisierter Verbrechen zu einem einzigen unwiderlegbaren Akt staatlich gebilligter Schallkriegsführung“ verdichte. In dem Interview erfährt man zudem, dass der Künstler wusste, „dass er mit dieser Arbeit einen Krieg an mehreren Fronten führen würde“. Ferner ist vom „Schweigen der Hisbollah“ die Rede, die 22 000 Gelegenheiten verpasst habe, „um zu beweisen, dass sie die Widerstandkraft ist, die sie vorgibt zu sein“.
Spätestens mit solchen Äußerungen stellt der Künstler sein Werk in einen Kontext, der nicht auf das Leiden der libanesischen Zivilbevölkerung abstellt, sondern auf eine einseitige politische Anklage Israels in einem Konflikt, dessen maßgeblicher Anlass ja die Herrschaft der Terrororganisation Hisbollah in weiten Teilen des Libanons ist. Gäbe es nur eine „Schallkriegsführung“ der Hisbollah gegen Israel, flögen keine israelischen Flugzeuge oder Drohnen über dem Libanon.
Mit den beiden aktuellen Ausstellungen spiegelt Steinbrügge, die vor zwei Jahren als Direktorin mit dem Anspruch angetreten ist, im Mudam das zu zeigen, was es an internationaler Kunst gibt und was gerade diskutiert wird, zweifellos aktuelle Trends der Kunstwelt wider. Auch Air Conditioning von Abu Hamdan reiht sich da ein, antiisraelische Agitation ist in der Kunstszene gerade groß in Mode – meist noch im Tonfall eines halluzinierten Tabubruchs. Ob sich eine staatliche Museumssammlung so unhinterfragt hieran beteiligen sollte, scheint eine berechtigte Frage.