Kaum ein luxemburgischer Autor hat derzeit ein so sicheres Händchen für Erfolg wie er. Soeben hat Samuel Hamen den begehrten Servais-Preis für seinen flirrenden dystopischen Roman Wie die Fliegen (diaphanes) verliehen bekommen, was angesichts der Nominierungen und seiner ausgeklügelten Geschichte – vom Genre irgendwo zwischen Kafkas Die Verwandlung und Detektivroman im Anthropozän – keine allzu große Überraschung war. Bereits 2020 erhielt er für seinen Erzählband Zeeechen (Éditions Guy Binsfeld) zusammen mit Marc Angel (Zeichnungen) den Lëtzebuerger Buchpräis. Auch das Weihnachtsmärchen im Grand Théâtre De Geescht oder D’Mumm Séis stammte in dieser Spielzeit aus seiner Feder. Mittlerweile ist Samuel Hamen zudem bereits das zweite Jahr in Folge auteur en résidence am TNL.
Die Erwartungen an ihn sind angesichts dieser Erfolgswelle hoch. Der Auftakt seines Textes „Ech ka mir virstellen, datt et héich Erwaardunge gëtt“, ist somit nicht nur programmatisch zu verstehen, sondern durchaus mehrdeutig. Wenn auch Alter Ego des Autors und fiktiver Text zwei Paar Schuhe sind und keine Frage Autor/innen so sehr nervt wie die danach, wie viel von ihnen selbst in ihren Werken steckt.
Politische Ausgewogenheit zieht sich von je her durch Hamens Texte; auch deshalb war sein Roman Wie die Fliegen so fantastisch. Er sprengte darin Konventionen und verschrieb sich keinerlei Kanon. In der Lesung im TNL heißt es: „Ech ka mir net virstellen, deenen Erwaardunge gerecht ze ginn, net well ech kokett oder anti-anti wëll sinn; ech wëll net ëffentlech scheiteren, als Stunt oder als Performance. Och hunn ech näischt Béises oder Perfides oder Zynesches wëlles.“
Ech sinn um Enn vun deem, wat ass ist eine Auftragsarbeit für das TNL des freien Schriftstellers und Publizisten, der zwischen Diekirch und Heidelberg lebt und wirkt. Es ist eine Lesung, kein Monodrama. „E Monolog iwwer d‘Virstellungskraaft“ lautet der Untertitel, der Vorstellungskraft in Zeiten von Krisen, wird im Programmheft erläutert. Wobei Krise mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist, unter dem politische Umbrüche, Rechtsruck, Pandemien, Klimawandel und Kriege gleichermaßen subsummiert werden.
Der Text umkreist die Möglichkeiten in einer Gesellschaft, die einen angesichts ihres Wohlstands und der damit verbundenen Erwartungen, Statussymbole und Codes einengt, ja förmlich den Hals zuschnürt; aber auch das Potenzial von Sprache und Kunst, um sich etwas Neues und Anderes auszudenken.
„Angscht a Redundanz, Middegkeet a Larmoyanz“, so wird der Ausgangszustand der Erzählfigur auf den Punkt gebracht.
Samuel Hamens Texte richten sich gewiss eher an eine gehobene Mittelschicht, das akademische Milieu, und gehen das Risiko ein, etwas elitär abzuschrecken. Auf der anderen Seite gibt es in Luxemburg kaum einen Autor, der auf eine so kluge Weise über den Tellerrand zu blicken vermag und im Luxemburgischen und im Deutschen sprachlich so versiert und kreativ unterwegs ist wie Hamen.
Den etwa einstündigen Text trägt die Schauspielerin Jeanne Werner im TNL nuanciert vor. Auf einem viereckigen Stück Vorgarten versinkt sie förmlich im Rindenmulch, den Holzspänen, Chiffre für die akkurate Gartenpflege am Einfamilienhaus. – Eine zarte Gestalt, die sich mit Worten dagegen wehrt, den vorgezeichneten Weg zu gehen, der angesichts ihres Umfeldes doch alternativlos scheint. Das Publikum sitzt an Tischen auf der Bühne, so dass die Distanz zum Geschehen aufgehoben ist: Wir sitzen im Theater und doch auch nicht. Wir sitzen auf der Bühne und doch mitten in der Luxemburger Realität.
Ech sinn um Enn, vun deem, wat ass ist auch eine kritisch-ironische Selbstreflexion. So antwortet der Ich-Erzähler als Heranwachsender auf die Frage des Patenonkels, wo er seine Zukunft sieht, weitsichtig und fast schon autistisch-verkopft: „Am Rindenmulch.“ Die Kleinfamilie mit wohlgeordneten Verhältnissen ist vorgezeichnet und erscheint dem Jungen als Fatalismus. Der Traum von einem Haselnussstrauch in der nördlich temperierten Klimazone erscheint da schon als heroischer Ausbruch.
Mitunter liefert der Autor eine prägnante Kritik am Wohlstandsmodell des Luxemburger Mittelstands: „Vill Leit bezuele vill Fric, fir an esou engem Virgäertchen an dësem Quartier vun der Stad stoen ze kënnen. Se nennen deen Invest Fräiheet oder Liewensdram oder Paradäis oder Traditioun oder Sécherheet oder Noutwennegkeet oder Statussymbol oder Wonschbesëtz oder Altersgarantie oder Finanzobjet oder Doheem. A mengem Kapp sinn déi Wierder blatzeg ginn. Ech gesi se ëmmer manner gutt, hir Kontur, hir Faarwen, hir Déift; alles léisst no.“
Neben etwas abgegriffenen Symbolen, wie dem Luxair-Ticket oder den Plätzchen von Oberweis, spinnt Hamen seine eigenen Metaphern, um den Mief zu beschreiben, und macht auf ironische Weise greifbar, wie erdrückend Spießigkeit sein kann. – Und dies fast ohne in die Sozialneidfalle zu tappen.
Rachefantasien wie die, eine betuchte Frau plattzutreten wie eine fette Kröte, nachdem diese sich mit Blick in den Kinderwagen darüber freut und feixt, dass das Kind ein Junge ist, denn Soldaten werde das Land bald brauchen, sind allzu dankbar. Gleichwohl wird in dem kurzen Stück klar: „It doesn’t have to be the way it is!“ Der sichere Luxemburger Weg ist kein Fatalismus. Es gibt Auswege, Alternativen zum trauten Eigenheim mit gepflegtem Vorgarten, SUV und dem Shopping bei Einkaufsketten wie Max Mara in der Groussgaass. Auch wenn die Versuchung, sich in einen flauschigen Kamelhaarmantel zu hüllen, am Ende groß ist.
Ech sinn um Enn vun deem, wat ass ist ein ausgefeilter, präziser und sprachlich kreativ-gewitzter Text. Vorgetragen von Jeanne Werner vermag der Monolog die Zuschauer/innen mitzureißen. Für eine scharfe Sozialkritik fehlt es jedoch etwas an Biss, Radikalität und letztlich vermutlich an der unmittelbaren Wut im Bauch. Vielleicht ist es Hamens leicht resignativer Realismus, denn die Alternativen liegen eigentlich nahe – und sind doch so fern.