Mit einer Werbekampagne für Wildragout soll die Waldverjüngung unterstützt werden. Ob das gelingt, ist eine Frage von Essgewohnheiten, Maisanbau, Jägern und dem Eigensinn von Wildtieren

Sauschlau

Foto: Martin Linster
d'Lëtzebuerger Land vom 10.05.2024

Wildfleisch sei „regional, gut, gesund und natürlich“, sagt Martine Hansen (CSV), Ministerin für Landwirtschaft und Ernährung, am Samstagmorgen auf dem städtischen Markt. Und es gehöre auch auf den Grill, denn es sei kein saisonales Fleisch. Die Nichtregierungsorganisation Forest Stewardship Council (FSC) hat gemeinsam mit anderen Naturschutzvereinen und Waldbesitzern einen Stand auf dem Knuedler errichtet, um die Jagd als wirksame Maßnahme gegen zu hohe Wildbestände zu bekräftigen. Die Wilddichte bedrohe die Vielfalt des Waldes: Die Verbissschäden an Buche, Esche und Eiche seien enorm. Zu viele Bäume sterben ab. Die Waldverjüngung bleibe aus. Nun soll die Vermarktung von einheimischem Wildfleisch vorangetrieben werden, indem man das „Image vu Wëld als Chrëschtdagsmenü“ kippt, wie Pit Mischo, Ehrenpräsident von Natur an Ëmwelt, über ein Mikrofon mitteilt. Seine Rechnung lautet also: Die Popularität von Wildfleisch soll zur Akzeptanz der Jagd beitragen. Umweltminister Serge Wilmes unterstützt die Initiative; kaum hörbar, trotz Mikrofon, spricht er von einem wertvollen Schritt fürs Ökosystem. Etwa 40 Menschen haben sich um den Stand versammelt. Nicht wenige DP-Politiker sind angereist: Der hochgewachsene Charles Goerens steht mit Sonnenbrille wie ein Sicherheitsbeamter neben seiner Co-Spitzenkandidatin im Europawahlkampf, Amela Skenderović. Lydie Polfer begrüßt als städtische Bürgermeisterin die Anwesenden. In ihrem Umfeld befinden sich die DP-Abgeordneten Gusty Graas und André Bauler.

Hinter den Rednern kocht Lou Steichen auf zwei Herdplatten Wildragout. Er ist grünes Mitglied des Ettelbrücker Gemeinderates, Koch im Oekosoph und hatte den mittlerweile wieder aufgelösten Verein „Naturjeeër“ gegründet. Wildfleisch sei gesund, informiert die Broschüre der Kampagne, die unter dem Motto „Gutt fir mech, gutt fir de Bësch“ hochgezogen wurde. Es besitze eine „außergewöhnliche Qualität“ – es sei fettarm, reich an Vitamin B, Zink, Eisen und Selenium. Unter dem Gesichtspunkt des Tierwohls weise es ebenfalls viele Vorteile auf: Wildtiere wachsen in einem natürlichen Umfeld auf und müssen keinen stressverursachenden Transport zum Schlachthof durchleben. Oft allerdings ist nicht klar, woher das Fleisch stammt. „Die Herkunft von Pferde- und Wildfleisch muss nicht gekennzeichnet werden“, erklärt Marc Parries, Sekretär des FSC und pensionierter Förster. „Stammt es aus Südfrankreich aus der Aufzucht, Neuseeland, Polen oder Rumänien, ist zudem nicht klar, ob Medikamente der Fütterung beigesetzt wurden.“ Auch deshalb sei es klug, auf den heimischen und überschaubaren Bestand bei der Vermarktung zu setzen. Der CSV-Abgeordnete Maurice Bauer gratuliert im Hintergrund Pit Mischo für das „antizyklische Event“ und zeigt auf die Frühlingssonne. Eine Timing-Strategie auf die auch Jean-Claude Juncker als Politiker gesetzt habe, so Bauer.

Rentiert sich der Markt für die Händler? Jo Studer, Leiter der Provençale, steht in blauen Überschuhen und weißem Einmalkittel mit integrierter Kopfschutzhaube in einem auf zwei Grad runtergekühlten Großkühlschrank. 15 Wildschweine und zwölf Rehe, deren Fell noch frisch dunkel- und hellbraun schimmert, hängen hier. „Jetzt ist die Jagd wieder eröffnet. Aber wir müssen uns nichts vormachen, im Sommer gibt es wenige Abnehmer.“ Von 7 000 der in Luxemburg geschossenen Wildschweine werden Zweidrittel an die Provençale geliefert. Damit können sie den heimischen Markt und die Nachfrage aus der Großregion abdecken. Dem Hausschwein machen sie keine Konkurrenz, etwa 300 bis 400 domestizierte Schweine werden pro Woche in Leudelingen verarbeitet. Weltweit ist die Nachfrage sehr hoch: Über eine Milliarde Hausschweine leben gleichzeitig. Aufs Jahr berechnet sind es deutlich mehr; denn ein Mastschwein lebt kein halbes Jahr. Hirschfleisch kauft die Provençale aus dem Ausland hinzu, „aber keins aus Neuseeland“, versichert Studer. „Kaufen wir zu viel ein, müssen wir es wieder zu Spottpreisen los werden“. Anfang des Jahres lieferte er circa 30 000 Kilo zu einem vergünstigten Preis aus. Wenn Waldbesitzer behaupten, die Provençale unterstütze den Wildfleischmarkt nicht ausreichend, schüttelt Studer den Kopf: „Meine Familie wirbt seit Generationen für den Konsum von Wildfleisch. Wir sind eine Jägerfamilie. Mangez du Gibier, lautete die Aufschrift auf unseren Lieferwagen letztes Jahr.“ Der Grund für das Ungleichgewicht zwischen dem Konsum von Wildfleisch und demjenigen aus der landwirtschaftlichen Produktion sei ein kultureller. „Wildfleisch ist zudem etwas teurer, aber die Unterschiede sind nicht enorm“, meint Studer. Journalisten vom SWR haben berechnet, dass Fleisch aus der Massentierhaltung günstiger ist, aber Wildfleisch kostet oft weniger als Bio-Fleisch vom Schwein oder Rind.

Am Sonntagmorgen steht Umweltminister Serge Wilmes (CSV) in Kaerjeng am Rednerpult. Die Fédération Saint-Hubert des Chasseurs du Grand-Duché du Luxembourg (FSHCL) hat zur Generalversammlung eingeladen. Wilmes bekräftigt, die Regierung und sein Ministerium „bekenne sich zur Jagd“ als wichtige Praxis, „an och vu mir perséinlech gëtt et ee Bekenntnis, obwuel ech nach ni op enger Juegd war“. Provençale-Leiter Jo Studer, ebenfalls Präsident der Jagdföderation, fasst seinerseits am Mikrofon den Wandel der letzten zwei Dekaden zusammen: „Et si mol keng 20 Joer hier, do ass de Jeeër verdaamt ginn – Mäerder, dir schéisst alles futti, ass geruff ginn. Haut ass et de Konträr, haut heescht et, dir musst méi schéissen.“ Tatsächlich schrieb die Vorgängerorganisation von Natur an Ëmwelt 2006: „Wer legt fest, welches Leben das wertvollere ist?“ Die Jagd als Maßnahme zum Artenschutz sei eine Scheinlösung. Natur an Ëmwelt, in Kooperation mit Naturschutz- und Forstwirtschaftsorganisationen, wirbt heute für die Jagd. Aber ist man sich sicher, dass eine erhöhte Jagdaktivität mit Waldschutz gleichzusetzen ist? Marc Parries sagt, das wisse man nicht so genau, aber man müsse diesen Weg austesten, auch mangels Alternativen: „Man könnte Waldteile massiv einzäunen, aber selbst auf den Parzellen vom Großherzog sind Durchlauf-Lücken entstanden. Antibabypillen sind ebenfalls keine ernstzunehmende Option; wir können keine Hormone in den Nahrungskreislauf bringen.“ Den Überschuss zu quantifizieren bleibt eine indirekte Rechnung. „Et ass net méiglech d’Wëld ze zielen an et ass net néideg. D’Densitéit vum Wëld moose mer um Schued, a mir gesinn, datt et too much ass.“ Innerhalb der Naturschutzorganisationen bleibt das Thema jedoch umstritten, Mitgliedschaften werden aufgrund der neuen Pro-Jagd-Haltung gekündigt.

Auch die Grünen tanzen auf dem Drahtseil; Jagdgegner gehören zur Stammwählerschaft wie auch das Personal von FSC, Natur an Emwëlt und dem Mouvement écologique, das am Samstag Wildfleisch verteilte. Der Piraten-Abegordnete Sven Clement mischte sich ebenfalls unter die Allianz von Jägern, Förstern und Waldbesitzern. Sein Parteikollege Marc Goergen blieb der Veranstaltung fern. Unter seinem Impuls artete ein Streit vor vier Jahren verleumderisch aus: Umweltministerin Carole Dieschbourg wurde unterstellt, Mufflons im Umland der Stadt Echternach grundlos töten zu wollen. Die Piraten schalteten ein Video mit dem Titel „RIP Mouffelen“ online, in dem im Vorspann behauptet wurde: „Dese Weekend ginn d’Mouffelen erschoss. A wien ass Schold? D’Agentin Dieschbourg“. Böse Kommentare ließen nicht auf sich warten: „Ass dat alles, wa dat Bëtschel kann?? Dat wier besser fort wéi déi Déieren.“ Dieschbourg machte einen Rückzieher und ließ die Naturverwaltung nicht intervenieren. Dabei breitete sich die nicht heimische Art ungebremst aus, da der Jagdpächter sich nicht an den Abschussplan hielt. Der verursachte Schaden lag laut Natur- und Forstverwaltung im Gemeindewald in manchen Jahren bei 32 000 Euro. Wildschäden sind landesweit allgemein hoch. Dokumente der Verwaltung illustrieren eine Verdoppelung des Schadens über die letzten neun Jahre. Die Jäger zahlen ihrerseits im Schnitt 500 000 Euro für die Schäden, die aufkommen. Ein Fonds, der ausschließlich über die Jagdschein-Gebühren von 230 Euro/jährlich gespeist wird, erlaubt eine Ausgleichszahlung an Waldbesitzer und Landwirte von vier Euro pro Hektarfläche. Die Naturverwaltung vermutet allerdings, dass nur Schäden gemeldet werden, die über der Rückerstattungsgrenze liegen, – die tatsächliche Schadensstatistik müsste demnach weit höher ausfallen. An Nachwuchsproblemen leidet die Jäger-Gemeinschaft nicht. 2 300 Einwohner besitzen einen Jagrdschein, järhlich bestehen 35 Eingeschriebene das Examen. Immer mehr Frauen und junge Menschen, manchmal mit Hang zur Selbstversorgung, schreiben sich für die Prüfung ein.

Während das Rotwild im Wald den Bäumen zusetzt, frisst sich das Schwarzwild eher durch die Ackerflächen. Für Wildschweine sind Maisfelder ein Schlaraffenland – hier ist der Futtertrog stets gefüllt und der Feldboden kühlt sie ab. Statistiken aus der Wallonie bezeugen eine Korrelation zwischen dem erhöhten Maisanbau und der fast explosionsartigen Zunahme der Schweinepopulation. Hinzu kommt das Kraftfutter von Eichen und Buchen: In immer kürzeren Abständen tragen sie eiweißhaltige Eicheln und Buchecker. Die Monokulturen des Ackerbaus und die Triebkräfte des Klimawandels mästen das Wildschwein. Die Jungtiere, auch Frischlinge genannt, sind deshalb oft schon im ersten Lebensjahr geschlechtsreif. Mittlerweile werden um die 7 000 Wildschweine jährlich geschossen; in den 1980-ern waren es nur 1 000. Weil ihr Bestand stark zunimmt, hat die Naturverwaltung überlegt, Gehegefallen aufzustellen. Richard Frank, Generalsekretär der FSHCL, empörte sich vor zwei Wochen im Wort, „mit Jagd haben solche Fallen nichts mehr zu tun“. Jo Studer nennt sie eine „Grausamkeit“, er empfiehlt online Videos anzuschauen, wie die Wildschweine vor Stress gegen das Käfiggitter rennen, das sei makaber. Deshalb verlangte er vom CSV-Umweltminister am Sonntag seine Position zu Fanggehegen darzulegen. „Dës Regierung wäert d‘Falen net als Juegdmethod an d‘Juegdrecht ophuelen, dat ass eng ganz kloer Ausso, zu där mer och stinn,“ antwortet dieser. Die Frage, ob Gehegefallen grausamer sind als die Treibjagd, kann Jo Studer im Gespräch mit dem Land jedoch nicht wirklich beantworten. Wahrscheinlich geht es auch um das Selbstverständnis der Jäger: Lebendfallen sind keine Jagdtechnik, sondern werden im Ausland als Naturschutzintervention gerahmt.

Am Samstag sagt die Landwirtschaftsministerin: „Hier sind wir alle beisammen, Waldbesitzer und Jäger.“ Über den luxemburgischen Konsens zwischen unterschiedlichen Parteien sei man in der Wallonie „jalous“, kommentiert Pit Mischo. Von den Landwirten war allerdings niemand anwesend. Am Dienstag erzählt Christian Hahn, Präsident der Landwirtschaftskammer, am Telefon, er komme gerade vom Mähen und hätte durch Wildschwein verursachte Risse und Löcher in seinen Wiesen aufgefunden. Die Landwirte würden die Kampagne mittragen, denn man befürworte die Reduzierung von Rehen und Wildschweinen. Befürchten sie keine Konkurrenz auf dem Teller der Kunden? „Nein, wir sehen die Konkurrenz eher in irischem und argentinischem Fleisch, das auf den Karten der Restaurants auftaucht.“ Und auch die Überschrift eines Wort-Artikels von Dienstag ärgere sie. „Das Klima retten? Weniger Fleisch wäre ein Anfang“ titelte der Wort-Journalist Thomas Klein. Das sei Aktionismus, moniert Hahn.

Nic Etgen, Landwirt und Präsident der Jagdsyndikate-Vereinigung FSCL, warnte vor einer Woche gegenüber dem Land, man dürfe keinesfalls mit den Gefühlen der Menschen gegenüber Wildtieren spielen – es gelte nun, den Wald zu schützen. Aber ist es nicht naheliegend, dass Sympathie für die Tiere aufkommen kann? Wildschweine sind eine comichafte Erscheinung. Im Vergleich zu ihrer Körpermasse wirken die Beinchen wie zu kurz geratene Streichhölzer. Dazu kommt ein überdimensionierter keilförmiger Kopf mit einer feinen Spürnase – ihre domestizierten Artgenossen leiden stark unter dem Gülle-Gestank in der Massentierhaltung. Wer dem anpassungsfähigen Allesfresser über Land begegnet, kann seine Lebensintelligenz beobachten: Die Bache lotst geschickt ihre Nachkommen über die Straße. Und ob die Jagd tatsächlich die Wildschweinpopulation wirksam eindämmt, bleibt unklar. Josef Reichholf emeritierter Professor für Ökologie, vermutet, dass die Tiere ihren Fortpflanzungsdrang an die Jagdintensität anpassen, um Verluste auszugleichen. Ein Wurf macht nur einige Prozent der Körpermasse der Wildsau aus, da kann sie auch mal mehr als ein halbes Dutzend Nachkommen gebären. Zudem bemerkten die Tiere die Ankunft der Jäger, die ein paar Tage vor der Treibjagd zwecks Vorbereitung im Wald unterwegs sind. Die borstigen Vierbeiner stellen sich auf ihre Jäger ein – sie sind eine „ardeur d’avance“, wie das Motto der Wildschweine in der belgischen Provinz Luxemburg lautet. Jo Studer beschäftigen diese Art von Zusammenhängen: „Die Natur reagiert auf uns, aber nicht immer so, wie wir es gerne hätten.“

Stéphanie Majerus
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