Notizen aus Cannes (2)

Die Interpretation eines brutalen, paranoiden Machtmenschen, durch  Jude Law in  Firebrand wird im Gedächtnis bleiben
Foto: STXfilms
d'Lëtzebuerger Land vom 02.06.2023

Auch die weiteren Filme des Hauptwettbewerbs der Filmfestspiele in Cannes zeugen von der Eigenwilligkeit der jeweiligen Filmkünstler – sowohl jenen der älteren Generation wie auch denen der neuen: Anatomie d’une chute von Justine Tiret (Gewinner der Palme d’Or) ist ein Film, dessen Titel die dramatische Konzentration und Intensität seiner Handlung ganz durchdrungen hat – der Hauptteil des Films findet im Gerichtssaal statt, der Spielort des Films, der wie kein anderer die kalte Fixation der Gesellschaft zeigt. Davor steht aber zunächst ein einschneidendes Ereignis, das für die Schriftstellerin Sandra alles verändert hat: Nach dem tödlichen Sturz ihres Mannes aus großer Höhe wird sie des Mordverdachts angeklagt. Tiret inszeniert vor allem den Staatsanwalt als ein kalt operierendes Instrument eines Gerichtssystems, das auf den Schuldspruch zielt, nicht so sehr auf die Findung der Wahrheit. Freilich leistet sie damit dem Stereotyp des theatralischen, rhetorisch bewanderten Wahrheitsverdrehers klarerweise Vorschub, dies ist in Bezug auf die dedizierte Fokussierung auf die Unschuld der Frauenperspektive nur folgerichtig. Ein klassisches Justizdrama ist Anatomie d’une chute aber keineswegs. Der Gerichtsprozess ist vielmehr die diskursive Plattform über die die diversen Facetten eines sehr komplizierten und schicksalsbelasteten Eheverhältnisses aufgeschlüsselt, ja dem Filmtitel entsprechend, seziert werden. Es sind die präzisen Dialoge und die eindringliche Schauspielleistung Sandra Hüllers in der Rolle der angeklagten Ehefrau und Mutter, die diesem Drama seine Wirkungsmacht verleiht.

Weniger dramatisch konzentriert, sondern viel eher schleppend im Erzählrhythmus erscheint da Firebrand unter der Regie von Karim Aïnouz: Wir befinden uns am Hofe König Heinrichs dem VIII. Catherine Parr, die sechste und letzte Frau des berüchtigten Monarchen, versucht den Hof zugunsten einer friedvolleren Regentschaft zu lenken. Seinem trägen Erzählfluss zum Trotz sticht Alicia Vikander hervor, die eine Königin gibt, die mit weiblichem Geschick die absolutistische Männerhierarchie zu unterwandern versucht, innerhalb eines Systems, das Frauen a priori keine Stimme zugesteht – ein Umstand, der indes nicht über einige Drehbuchschwächen hinwegtäuschen kann. Freilich: Eine erfrischende, weil entschlossen abwertende Sichtweise auf die Regentschaft Heinrich des VIII. ist Firebrand aber allemal – führt man sich die Serie The Tudors, unter der Feder von Michael Hirst, nochmals vor Augen, die ganz auf die Erlebniswelt des Regenten fokussiert und die Frauenfiguren mehr als lustvolle Schauobjekte preisgab – den Mann in der Folge als temperamentvolles Opfer der Umstände und Zwänge des Hofes zeichnete. Jonathan Rhys Meyers verstand es ausgesprochen gut, diese leidvollen Stimmungsschwankungen des königlichen Gemüts einzufangen. Die Interpretation durch Jude Law eines brutalen, paranoiden Machtmenschen, der die Grenze zum Wahn längst überschritten hat, bleibt da viel drastischer im Gedächtnis haften.

Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki kehrt mit der Tragikomödie Fallen Leaves zurück auf die Leinwand. Sechs Jahre nach The Other Side of Hope erzählt er einmal mehr in seinem unverwechselbaren Stil von der Einsamkeit: Zwei Menschen, die sich zufällig begegnen, versuchen die Liebe zu finden. Die Verweise auf den gegenwärtigen Ukrainekrieg tun der Zeitlosigkeit von Kaurismäkis Werk keinen Abbruch. Dieser Film über Schmerz und Absurdität wäre nicht von Kaurismäki, würde er nicht tief in die Sehnsuchtsgefilde der menschlichen Seele blicken. Die Formensprache, die er nun über rund vierzig Jahre hinweg mit achtzehn Filmen immer weiter perfektioniert hat, machen die besondere Qualität dieses Kinos aus, es ist ebendiese, die uns in den Bann der Erzählung zieht: Eine von blaugrauen, blassen Tönen, einem Tupfer Rot bestimmte Farbpalette und die tristen Klänge französischer Chansons, sowie erstmalig Schubert, bilden die Atmosphäre dieses Films, in dem Figuren Blicke in die Ferne schweifen lassen, sie verweilen dort, träumend; da wird eine ungestillte Sehnsucht, das Verlangen nach etwas mehr spürbar. Doch wie so oft bleibt diese zu überwindende Verzweiflung bei Kaurismäki letztlich nur angedeutet. Diese Erkenntnis mag nicht viel sein für diese Helden, aber genug für das tieftraurige Dasein, das sie verkörpern, es sind wahrlich tragikomische Gestalten – der Verweis der Schlusseinstellung auf Chaplin ist da kein Zufall.

Die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner hat sich mit Filmen wie Hotel, Lourdes oder Little Joe hinlänglich einen Namen gemacht als transgressive Regisseurin des gegenwärtigen europäischen Arthouse-Kinos. Mit Club Zero führt sie dieses Programm fort, zielt aber entschlossen auf den Problemkreis der Essstörung: Wir befinden uns in einer Eliteschule, in der Kinder unter der Leitung der charismatischen, einflussreichen Miss Novak auf eine Form der kontrollierten, sparsamen Ernährung programmiert werden sollen. In diesem totalitären Schulsystem, das ganz auf das Funktionieren ausgerichtet ist, scheint jeder Form von Individualität enge Grenzen gesetzt zu werden. In diesem Ablauf allumfassender Indoktrination rund um Essgewohnheiten lehnt sich Hausner an stoffliche Aspekte der dystopischen Science-Fiction an. Entfalten kann sich dieser irritierende, ja verstörende Themenkomplex erst vor der ausdrücklich bizarren, streng ausgerichteten Mise-en-Scène, die irgendwo zwischen Stanley Kubrick und Wes Anderson anzusiedeln ist. Starr und rigide in der Form zeigt Hausner, wie dieses Konfliktfeld immer wieder rund um den Esstisch ausgetragen wird, der intergenerationelle Spannungen an die Oberfläche bringt – ein schleichender Prozess, der sich ganz unmerklich aber unerbittlich ins Grenzüberschreitende steigert. Nicht Realismus des Gezeigten ist Hausners Anspruch, sondern die Künstlichkeit. Ihr Film ist kein Bild, sondern eher ein Bilderrahmen – die hyperreelle Konstruktion dieser Filmwelt ist beständig auf der Oberfläche des Gezeigten eingeschlossen.

Dass Filme Bilderrahmen sein können, beweist einmal mehr Wes Anderson mit seiner skurril-bunten, und äußerst auf Kadrage setzenden Ästhetik von Asteroid City, ja, die Handschrift dieses Autors ist ungemein singulär in ihrer Künstlichkeit. Schauplatz der Handlung ist eine Wüstenlandschaft in New Mexiko, die seinen Namen einem Meteoriteneinschlag zu verdanken hat. Von da aus strukturieren Einzelepisoden das Geschehen rund um Militäroperationen, Zwangsquarantäne und Besuche von Aliens aus dem Weltall. Dazu gesellt sich typisch für Anderson eine Unmenge an Figuren, die sich in reiner Geschwätzigkeit verlieren; ein Muster, so scheint es, das mehr der Starpower verpflichtet ist als einer kohärenten Erzählung. Ein Film, der so belanglos daherkommt wie die Verschwörungstheorien, denen er Vorschub leistet oder die Kitschästhetik, die ihn antreibt.

Ein Film über Künstlichkeit ist auch Todd Haynes May December, dessen Aussagekraft aber weit über Wes Anderson hinausgeht – kein anderer Film von Todd Haynes stellt den amerikanischen Traum, das Bild der Kleinfamilienharmonie derart unerbittlich und subversiv infrage: Gracie Anderton sorgte für reichlich Schlagzeilen in der Boulevardpresse, als sie vor zwanzig Jahren wegen Verführung eines Minderjährigen, Joe, einem Schüler von dreizehn Jahren, verurteilt wurde. Nach ihrer Haft heiraten die beiden. Was da als heimische Idylle präsentiert wird, lässt bald erste Risse sichtbar werden, zumal die Schauspielerin Elizabeth für ein anstehendes Filmprojekt die Rolle der Gracie übernehmen möchte. Zunächst steht da ein Grillfest, zu dem auch die Schauspielerin eingeladen ist. Ob sie denn auch genügend Hotdogs haben, fragt sich Gracie besorgt, die Wahrung des Scheins ist alles. Immer neue Schichten in diesem komplexen Eheverhältnis werden da freigelegt – Verantwortungs- und Sinnfragen um ein verlebtes Leben werden ausgetauscht. Diese Suburbia-Persiflage bearbeitet Haynes viel unerbittlicher und subversiver als benachbarte Filme, etwa American Beauty – mit doppeltem Boden, Ironie, Subversion. Bilder aus der Tierwelt strukturieren den Handlungsverlauf auf besondere Weise: Die Stadien von Larve – Raupe – Schmetterling stehen da auch für die Subversion in der Subversion. Das vermeintlich Hässliche kann auch Schönheit bergen. Wenn Gracie am Ende behauptet, sie wäre selbstsicher, dann legt sie damit nur die Unsicherheit bei Elizabeth frei. Das Duell beider Frauen macht aus May December auch einen Persiflage-Film über die Schauspielkunst. Natalie Portman in der Rolle der Elizabeth setzt ganz auf ein überbetontes ironisches Spiel im Spiel, der Pastiche-Technik von Hanyes entsprechend, die Julianne Moore als Elizabeth beständig zu unterwandern versucht. Dem Prinzip der Mise en abyme verpflichtet, arbeitet Haynes mit reichlich Spiegelbildern, nur um zu zeigen, dass nichts so ist, wie es den Anschein erweckt.

Mit The Old Oak führt der Veteran des britischen sozialrealistischen Kinos, Ken Loach, in enger Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor Paul Laverty, seine linksgerichtete Agenda fort: Ein Pub in einem ehemaligen Grubendorf bei Durham im Nordosten Englands dient ihm als Dreh- und Angelpunkt für eine Erzählung, die immer noch auf sozialrealistische Weise aber weniger determiniert die Perspektive der Proletarier fokussiert. Die Misere der Arbeiterklasse, die nun auch ihre Identität in Gefahr glaubt, geht auf kulturell-ethnische Problemfelder über. Der Held dieses Films sieht sich gefangen im Zwischendrin. Die Ängste und Sorgen inmitten einer sich verändernden Lebenswirklichkeit nimmt Loach wohl ernst, die von Wohnungsknappheit und Flüchtlingsbewegungen geprägt ist, ohne diese aber einseitig zu vertreten. Was da auffällt, ist der etwas betuliche, paternalistische Blick Loachs auf den Arbeiter, den er gegen die Zuwanderer ausspielt, um sein Konfliktpotenzial zu beziehen. Die Immigranten sind es denn auch, die etwas klischeehaft über ihre Kultur, besonders die Kulinarik, die Einsicht und den Umschwung des weißen, verbitterten Mannes bewirken. Es ist ob dieser auf den interkulturellen Dialog ausgerichtete Schwerpunktsetzung des Films, dass nach I, Daniel Blake und Sorry We Missed You, die unerbittliche, stringente Systemkritik allenfalls noch beiläufig mitgeführt wird. Loach schildert all dies wie gewohnt simpel und ökonomisch in der Form, ohne aber die Dringlichkeit der Vorgängerfilme anzustreben.

Auch der Veteran des ehemals Jungen Deutschen Films, Wim Wenders, ist gleich mit zwei Filmen an der Croisette vertreten: Anselm konnte man im Rahmenprogramm anschauen, während Perfect Days im Hauptwettbewerb gezeigt wurde. Darin begleiten wir den Toilettenreiniger Hirayama – ganz im Gegensatz zu den suchenden Helden bei Kaurismäki ist dieser Hirayama zufrieden mit seinem Leben, er liebt die Struktur des Alltags, die geregelten Bahnen: Neben seiner Arbeit widmet er sich der Musik und der Literatur. Wir erfahren nur, dass er aus privilegierten Verhältnissen stammt, diese aber freiwillig aufgegeben hat, um das Glück in den einfachen Dingen zu suchen. Wenders kommentiert diesen freien Willen nicht, umso mehr enthält er sich, das Toilettenreinigen als niedere Tätigkeit zu degradieren. Perfect Days spürt mit äußerster Sensibilität, Präzision und Würde den Banalitäten eines Tagesablaufs nach. Wenders erreicht mittels der Musikeinlagen und dem sehr fotografischen visuellen Stil eine Poesie, die als Feier der Alltäglichkeit zwischen Yasujiro Ozu und Michelangelo Antonioni anzusiedeln ist. Die plötzlich einsetzenden narrativ stärkeren Momente rund um die Nichte und Schwester wirken da beinahe wie Störfaktoren in einem ansonsten äußerst präzise austariertem Film.

Marc Trappendreher
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