Die 76. Filmfestspiele von Cannes öffneten vergangene Woche mit Maïwenns Jeanne du Barry, ein Film der bereits im Vorfeld Aufsehen erregte, handelt es sich hier doch um Johnny Depps Rückkehr auf die große Leinwand, nachdem er den medial breit rezipierten Verleumdungsprozess gegen seine Ex-Frau, die Schauspielerin Amber Heard, für sich gewann. Maïwenn weiß daraus Kapital zu schlagen, ihr Film profitiert ungemein von der Aura und der populären Größe des Schauspielers, den sie als König Ludwig XV in Szene setzt. Maïwenn selbst gibt die titelgebende Heldin, die Frau aus niederen Verhältnissen, die nach dem Tod der Königin zur bevorzugten Mätresse des Königs wird. Sie prostituiert sich, sie liest, bildet sich, will mehr vom Leben. Am Hofe dann gewinnt sie die Gunst des Königs, weil sie bezeichnenderweise die königliche Etikette nicht einhält, nicht einzuhalten weiß. Es ist dabei Maïwenns Verdienst, zumindest in Ansätzen, Verhaltenskodexe des absolutistischen Zeitalters Frankreichs zu erfassen. Dabei geht sie indes nicht dediziert untersuchend und differenziert vor, sondern schöpft daraus, um ihre Frauenfigur zur „Heiligen Hure“ zu stilisieren, hierfür macht sie Anleihen bei den Formeln der Märchenerzählung, etwa dem Aschenputtel, um ein einseitiges Porträt zwischen Standesdünkel und Emanzipation zu zeichnen. Jeanne du Barry ist denn auch kein Film um Macht, auch die Fäulnis der Macht, um die Etikette am Hofe und die Zwänge dieser. Versailles wird hier als strenges und rigides Zentrum des Patriarchats zulasten der Frau gesehen; nur beiläufig gelingt es, auch den Mann als Opfer desselben Patriarchats zu sehen. Vieles will Maïwenn erzählen, findet aber keinen fokussierten Zugriff auf diese historische Persönlichkeit und ihr Umfeld.
Um Differenziertheit bemüht sind da viel eher die Filme des Hauptwettbewerbs. So Hirokazu Kore-edas Monsters, ein Film über zwei Kinder, der zunächst aus jeweils unterschiedlichen Erwachsenenperspektiven in Einzelepisoden berichtet, um dann eine Multiperspektivität zu erreichen. Ein unerhörter Vorfall in einer japanischen Grundschule bildet den Ausgangspunkt für das Geschehen: Als Gerüchte um einen gewalttätigen Lehrer entfacht werden, verlangt eine alleinerziehende besorgte Mutter nach Antworten. Ausgehend von Nachreden wird ein Geflecht von Halbwahrheiten, unberechtigten und unfairen Vorwürfen sichtbar. Abgesehen von Redundanzen und der überspitzten Dramatisierung in seinem letzten Erzählabschnitt, die die Entfaltung des thematischen Kerns mitunter mehr behindert als fördert, wird in immer neuen Ansätzen jeweils eine weitere Schicht freigelegt und dementsprechend einfühlsam wie nachdenklich Licht auf die Wahrheit gesetzt.
Eine an den brechtschen Verfremdungsstil angelegte Inszenierungsweise macht die Wirkungsmacht von The Zone of Interest nach dem Roman von Martin Amis aus. Dass das Gutbürgerliche und das Beschauliche des Eigenheimes des hochrangigen Nazioffiziers Rudolf Höß mit dem Horror des Holocaust Hand in Hand geht, ja im nachbarschaftlichen Verhältnis steht, ist der Schwerpunkt der Erzählung, ja ist hier im Wortsinn zu nehmen: Das Lager bildet den Hinterhof des Familiengartens. Nie wirklich sichtbar, im Hintergrund aber präsent. Dass dieses Moment sich so drastisch nach vorn schiebt, ohne je wirklich ins Bild gesetzt zu werden, ist das Resultat einer dramaturgischen Strenge, die auf Subversion zielt, weil die Alltagsgespräche aus Privat- und Berufsebene durch diesen Umstand beständig kontaminiert sind. Regisseur Jonathan Glazer hat mit den Mitteln audiovisueller Verfremdung eine bemerkenswerte Literaturverfilmung geschaffen, die das Unbegreifliche als unbegreiflich stehen lässt. Am Ende bleibt da nur die Erkenntnis, dass die Normalvorstellung von „Gutbürgertum“ und die Unmenschlichkeit manchmal nur durch einen Gartenzaun getrennt sind.
In Black Flies von Regisseur Jean-Stéphane Sauvaire stehen die beiden Rettungssanitäter aus New York im Zentrum; eine Erzählung um Schutzengel, die immer wieder diese absonderliche Schwelle zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich überqueren. Nicht immer ist da klar, ob es sich um Himmel oder Hölle handelt; es ist eine Schwelle, so düster und beklemmend, weil sie fortwährend Begegnungen mit der Unmenschlichkeit im Menschen offenlegen, die bei diesen mitunter widerwilligen und doch nahezu heiligen Helden tiefe Spuren hinterlässt – nietzscheanisch gesprochen, haben sie zu lange in den Abgrund geblickt. Zu den Klängen von Richard Wagners Lohengrin fügt Sauvaire atmosphärische Bilder die, sich konzeptuell stumpf wiederholend, zu einem ganz unterkühlten Essay um menschliche Abgründe verdichtet werden, der an Martin Scorseses Taxi Driver und mehr noch Bringing Out the Dead erinnert.
Dass man vom Altmeister Martin Scorsese noch sehr viel lernen kann, zeigt Killers of the Flower Moon – ein Film, der vielleicht mehr noch als Casino oder The Wolf of Wall Street von der Gier erzählt. Indes tut er dies weniger rauschhaft und exzessiv, sondern wählt einen bedächtigeren Zugang, der auch von der Formung einer neuen amerikanischen Gesellschaft erzählt. Ausgehend von der gleichnamigen Romanvorlage von David Grann, befinden wir uns in den 1920-er-Jahren, als Mitglieder des indianischen Stammes der Osage in Oklahoma ermordet werden, nachdem auf ihrem Land Öl gefunden wurde. Da erhebt sich zu den Klängen von Guide Me O Thou Great Jehovah in der Interpretation der Indian Bottom Association Old Regular Baptists eine Feuerwand in die Luft, dahinter sind nur noch schemenhafte Körper zu erkennen – Scorsese hat es nicht verlernt, mit Bildern und Tönen eindringliche Stimmungen zu erzeugen. Die Etablierung einer neuen Ordnung auf amerikanischem Boden muss sich vor der Ausgangsbasis der einstigen gewaltvollen Landnahme durchsetzen – eine Nation ist da erwachsen aus ehemals weißen Siedlern und indianischer Urbevölkerung, aber der weiße Überlegenheitsgedanke bleibt verhaftet. Gepaart mit der Gier des Geldes – für die Figuren Scorseses immer schon Religion gewesen – bildet er eine absurde Legitimation aus, der zufolge den Ureinwohnern das Land nochmals genommen werden darf. Der Leitgedanke der unbegrenzten Möglichkeiten gerät hier unweigerlich in Konflikt mit dem Gesetz, das nun mit der Gründung des FBI auch eine staatliche Fahndungsinstitution gefunden hat. Verzweifelt, fast schon mitleiderregend wirken die Figuren dieses Films, die gegenüber den Umbrüchen der Gesellschaft wie verloren erscheinen. Die Komik, die Scorsese erzeugt, setzt das Unbehagen gegenüber dem Gezeigten erst recht frei.
Für die wohl größte Starpräsenz am roten Teppich sorgte aber Harrison Ford, der mit Indiana Jones and the Dial of Destiny noch einmal in die Rolle des ikonischen Archäologen und Schatzsuchers schlüpft. Freilich dürfte es wenig überraschen, dass der nun fünfte und vermutlich letzte Eintrag in der Reihe von nostalgischer Revision und wehmütigem Abgesang geprägt ist, vielleicht nicht nur auf seinen gealterten Helden, sondern auch auf die Formensprache eines vergangenen Hollywoodkinos, das sich im postkinematografischen Zeitalter aufgelöst hat. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Niedergang des Dritten Reiches nimmt der Film seinen Lauf: Diesmal gilt es die Antikythera, ein mythisches Artefakt, das der Mathematiker und Physiker Archimedes höchstpersönlich angefertigt haben soll, aufzufinden, denn das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel. Noch einmal wird eine Sehnsucht nach der Unschuld des Abenteuers besungen, für die Regisseur James Mangold ganz auf seinen gealterten Hauptdarsteller setzt – da wird an eine Zeit des populären Blockbusterkinos erinnert, das noch vom Fluss des Erzählten lebte, von einer kinetischen Rasanz, die sich hier nun mit viel selbstbewusster Ironie aber auch Einfühlsamkeit am Körperbild Fords abarbeitet. Es ist diese an Steven Spielberg angelehnte Erzählkunst, die die Lust am Spektakel ausmacht und für die Spezialeffekte nie narrativ tragend waren, nie dem Selbstzweck dienten.