Das Centre pour l’égalité de traitement (CET) und die Menschenrechtskommission CCDH reagierten als erste: In einer gemeinsamen Stellungnahme begrüßten sie den neuen nationalen Aktionsplan (NAP) für Menschen mit Behinderungen als „ehrgeizig“ und als „detailliertes Dokument“ mit „genauen und konkreten Maßnahmen“. Den Plan hatte die zuständige Familienministerin Corinne Cahen (DP) Mitte Februar der Presse vorgestellt.
Doch sie bedauerten zugleich, „dass es den betroffenen Personen und ihren Organisationen nicht ermöglicht wurde, den gesamten Entwurf des NAP vor dessen Annahme durch den Regierungsrat im Dezember 2019 zu konsultieren oder zu kommentieren“. Ihnen zufolge wäre es „wünschenswert gewesen, diese Organisationen zu informieren, bevor der NAP am 15. Januar 2020 dem zuständigen parlamentarischen Ausschuss und der Presse präsentiert wurde“.
Mit CCDH und Antidiskriminierungsstelle äußert sich nicht irgendjemand zur Vorgehensweise, sondern jene beiden Institutionen, die gesetzlich beauftragt sind, über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Luxemburg im Interesse der Betroffenen zu wachen – und gegebenenfalls Alarm zu schlagen, sollte es keine oder nur langsame Fortschritte geben.
Öffentliche Diskussion Die Veröffentlichung am Mittwoch war geplant: CCDH und CET waren am Dienstagabend zuvor im Bonneweger Kulturzentrum anwesend gewesen, um einer wichtigen Etappe beizuwohnen im Kampf um mehr Rechte für Menschen mit Behinderungen: Vor einem fast voll besetzten Saal stellte Cahen gemeinsam mit den jeweiligen Vertretern anderer Ministerien die großen Leitlinien und Änderungen des zweiten Aktionsplans Handicap erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor.
Mit ihrer Stellungnahme legen CCDH und CET den Finger in eine Wunde, die immer wieder aufreißt, geht es um die Rechte Behinderter: die der Beteiligung und Einbindung. Dass das Thema nicht nur direkt Betroffene angeht, sondern vielen Angehörigen und Beschäftigten des Sektors ebenso wenig Ruhe lässt, konnte man den teils sehr persönlichen Beiträgen aus dem Publikum entnehmen. Die veranschlagten zwei Stunden reichten nicht aus, um alle Problematiken besprechen zu können.
Cahen betonte zwar mehrfach, wie wichtig ihr die Meinung der Betroffenen und dass ihr Ministerium offen für Anfragen sei; Isabelle Mousset, Vertreterin des Arbeitsministeriums, blendete eine Telefonnummer ein, wo Interessierte anrufen können. Doch auch dieses Mal gab es Ministerien, die keinen Vertreter geschickt hatten, so dass Informationen etwa zur Weiterbildung und Anerkennung von Gebärdendolmetschern nicht beantwortet werden konnten. Die grüne Abgeordnete Josée Lorsché griff diese Anliegen am Folgetag in einer parlamentarischen Anfrage auf. Neben dem Hochschulministerium glänzte das Sportministerium durch Abwesenheit, obschon Betroffene berichten, dass viele Sportvereine entgegen anderslautender Versprechungen weiterhin keine Behinderten aufnähmen. Es gibt aber auch ermutigende Beispiele: Laurent Dura, im Erziehungsministerium für die so genannten Kompetenzzentren zuständig, berichtete von einer sehbehinderten Judoka, die auf nationalem Niveau mittrainiert.
Das Mobilitätsministerium hat am Plan nicht mitgewirkt, obwohl die Nachricht, dass das Ministerium neue Fahrdienst-Karten und Behindertenausweise für den Gratis-Behindertentransport Adapto ausstellen will, derzeit für reichlich Unruhe sorgt, weil befürchtet wird, das Ministerium könnte auf diesem Weg versuchen, den Zugang massiv einzuschränken.
Beim Bildungskapitel wurde die Stimmung dann deutlich angespannter. Die 20 Maßnahmen zielen vor allem darauf ab, die Inklusion in Kindergarten und Tagesstätten zu fördern. Zur schulischen Inklusion dagegen stehe kaum etwas im Aktionsplan, monierte eine Vertreterin von Zefi, Zesummen fir Inklusion. Künftig soll die Bezeichnung „Kinder mit besonderem Erziehungsbedarf“ entfallen, Kinder mit Behinderungen sollen ihre Kompetenzen via Zeugnis zertifiziert bekommen und das Thema Behinderung soll im Vie et Société-Kurs allgemeinverbindlich behandelt werden. Lehrpersonal, das mit behinderten Kindern arbeitet, soll überdies besser geschult werden. Das war es an verbindlichen Maßnahmen für Schulen und Lehrer. Die Bildung ihrer Kinder sorgt bei Eltern generell für Kopfzerbrechen, gilt eine solide Ausbildung doch als Startkapital in ein unabhängiges Leben und sind viele Regelschulen nach wie vor nicht auf Behinderungen eingestellt. Mütter und Väter behinderter Kinder fühlen sich oft allein gelassen, wenn es darum geht, ihre Kinder in den Regelschulunterricht zu integrieren.
Yves Huberty, im Justizministerium für die Reform des Vormundschaftsrechts zuständig, eine Reform, die der grüne Justizminister Félix Braz beim Amtsantritt versprochen hatte, die aber bis heute nicht einmal das Stadium eines Gesetzentwurfs erreicht hat, kam erst kurz vor Schluss der Veranstaltung; er hatte zuvor eine andere Sitzung gehabt. Es sind unglückliche Kollisionen wie diese, warum Menschen mit Behinderungen so oft das Gefühl haben, von der Politik nicht ernstgenommen zu werden. Das Vormundschaftsrecht berührt das Leben vieler Menschen mit Behinderungen unmittelbar und sorgt, im Falle von Fehlentscheidungen, für Konflikte und viel persönliches Leid. Dass einer von damals zwei Vormundschaftsrichtern in Luxemburg-Stadt wegen Amtsmissbrauchs und weil er eine intime Beziehung zu einer Schutzbefohlenen eingegangen war, verurteilt wurde, hat das Vertrauen in die Justizbehörden erschüttert. Zumal Luxemburg wegen seines paternalistischen Verständnisses von Vormundschaft international seit Jahren in der Kritik steht. Der UN-Sonderausschuss, der in Genf die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention weltweit begleitet, hatte das Großherzogtum diesbezüglich massiv kritisiert und rasche Reformen gefordert.
Justizministerin Sam Tanson (Grüne) will auf ein modernes Betreuungsrecht umsteigen: Volljährige Behinderte sollen ihren gesetzlichen Vertreter selbst wählen und, sollten sie nicht mit ihm/ihr zufrieden sein, diese/n auch wechseln können. Der Beistand soll künftig in den Rechten von Behinderten geschult werden. Auch soll der Schutz vor Missbrauch oder Ausnutzung von behinderten Menschen, die seelisch oder geistig so eingeschränkt sind, dass sie nicht selbst entscheiden können, durch vermehrte unabhängige Kontrollen verbessert werden. Der Kontrolldienst soll dann bei Verdachtsfällen von Unregelmäßigkeiten das Gericht einschalten. In der Vergangenheit waren gründliche Kontrollen durch die zuständigen Gerichte aufgrund von Personalmangel nahezu inexistent; das Justizministerium will mehr Vormundschaftsrichter einstellen.
Neben der Reform des Vormundschaftsrechts wird die persönliche Assistenz ungeduldig erwartet, die im Plan als erste Priorität steht. Grundsätzlich sollen Menschen mit Behinderungen einen finanziellen Zuschuss erhalten, den sie wahlweise für eine persönliche Assistenz, also jemanden, der oder die der Person im Alltag zur Hand geht, oder für die Dienste eines Pflegeheims ausgeben können. Allerdings wollen Familienministerium und Pflegeversicherung zunächst verschiedene Fälle studieren, um die Kosten besser einschätzen zu können. Auch ist eine groß angelegte Umfrage mit dem Luxembourg Institute for social-economic research (Liser) zu den Bedürfnissen geplant, bevor erste Pilotprojekte beginnen. Aus den Wortmeldungen von Betroffenen war eine gewisse Skepsis und Ungeduld herauszuhören. Die zuständige Beamtin, Marie-France Nennig, aus dem Familienministerium, versprach, die Fragebögen seien „so gut wie fertig“ und sollen nun in einem Testlauf auf ihre Tauglichkeit überprüft werden.
Insgesamt hat die Koordination beim zweiten Aktionsplan besser funktioniert als beim ersten, der 2017 auslief. Damals fehlte ein verbindlicher, öffentlich zugänglicher Zeitplan und auch die Finanzierung vieler Maßnahmen stand in den Sternen. 2018 wurden Arbeitsgruppen gebildet und gab es drei Vorbereitungstreffen, wo jede/r ihre Prioritäten, Kritik und und Wünsche für eine Neuauflage des Aktionsplans äußern konnte. „Wir haben die Prioritäten berücksichtigt“, beteuerte Corinne Cahen mehrmals im Verlauf des Abends.
Ob das stimmt, kann niemand so richtig nachvollziehen, denn weder die in den Sitzungen erhobenen Forderungen der Behindertenorganisationen, noch die Protokolle oder Stadien der Beratungen waren öffentlich zugänglich. Während in Ländern wie der Schweiz der Zwischenstand der Diskussionen um den BRK-Aktionsplan offen auf Webseiten dokumentiert wird, tut sich das Familienministerium mit einer umfassenden Transparenz weiter schwer. Wer bei den Unterredungen nicht dabei war – und das kommt bei Menschen mit Behinderungen wegen der leidigen Transportfrage immer wieder vor –, verliert schnell den Anschluss. Das Familienministerium hält die Fäden in der Hand, es koordiniert, legt die Beratungstermine fest und trägt die Prioritäten und Maßnahmen des Aktionsplans zusammen.
Ein Feedback zu den konkreten Aktionen, die in jedem Ressort schlussendlich zurückbehalten wurden, blieb den Behindertenvertretern aber vorenthalten. Seit März 2019 gab es keine weitere Treffen mehr und wurden die Verbände auch nicht mehr konsultiert. Die Gelegenheit sollten sie am Dienstagabend in Bonneweg bekommen, doch bis dahin lag nur die französischsprachige Version des Aktionsplan vor; die deutsche Übersetzung ebenso wie die in Leichter Sprache waren nicht rechtzeitig fertig geworden. Das Familienministerium will sie schnellstmöglich nachreichen.
So beschränkten sich die meisten Beiträge der TeilnehmerInnen in erster Linie auf Verständnisfragen. Detaillierte Erörterungen waren angesichts der knappen Zeit nicht möglich – und vielleicht auch nicht gewollt, denn dann hätten die Verantwortlichen die Zusammenkunft anders organisieren können. Warum für die Besprechung eines so aufwändigen Plans nicht mindestens ein ganzer Tag – für Vorstellung und Feedback – vorgesehen wurde, bleibt ihr Geheimnis. Der Aktionsplan ist das zentrale Instrument, um die UN-Behindertenrechtskonvention hierzulande umzusetzen. Eine erste Evaluation ist für 2022 vorgesehen.
Aktionsplan 2019-2024
Der 156-seitige Aktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) liegt derzeit nur auf Französisch vor. Er umfasst acht Kapitel, die den acht Schwerpunkten gewidmet sind: Sensibilisierung, wie nach Artikel 8 der BRK vorgesehen; die Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach Artikel 12 der BRK; die Autonomie und gesellschaftliche Inklusion (nach Artikel 19 BRK); die Meinungsfreiheit nach Artikel 21; die Bildung (Artikel 24 BRK); die Gesundheit (Artikel 25); Arbeit und Beschäftigung nach Artikel 27 BRK sowie die politische und öffentliche Beteiligung (Artikel 29 BRK).
Insgesamt sieht der zweite Aktionsplan, der mit einem Jahr Verspätung kommt (ursprünglich war 2018-2023 als Laufzeit vorgesehen) 29 Prioritäten vor, 55 Ziele sowie 97 konkrete Aktionen. Auch Zeitpläne mit den jeweils zuständigen Anlaufstellen liegt vor; sie befinden sich am Ende der jeweiligen Kapitel der französischen Version, sind aber nicht sehr übersichtlich gestaltet. Auch ist nicht zu erkennen, ob eventuell in Teilbereichen bereits Initiativen ergriffen und welche Fortschritte dort erzielt wurden.
Festgelegt hat die Prioritäten der Oberste Behindertenrat gemeinsam mit der NAP-Steuerungsgruppe in Abstimmung mit dem Ministerium. Sowohl im Behindertenrat als auch in der Steuerungsgruppe sitzen Vertreter der Behindertenverbände.
In drei Treffen mit jeweils rund 100 TeilnehmerInnen wurden verschiedene Pisten diskutiert sowie Arbeitsgruppen zu den acht Schwerpunktthemen gebildet. Das erste Treffen im Juni 2018 diente dem Brainstorming, ein weiteres fand im Oktober 2018 statt. Das dritte im November 2018. Und schließlich gab es ein Treffen im März 2019, zu dem Zeitpunkt lagen allerdings nicht alle Vorschläge der Ministerien vor, was TeilnehmerInnen bemängelten. Die Einarbeitung der jeweiligen ressortbezogenen Maßnahmen durch das Familienministerium dauerte bis Ende Herbst 2019, eine weitere öffentliche Feedback-Runde war bis vergangenen Dienstag nicht mehr vorgesehen und fand daher auch nicht statt. ik