Es ist eine Erfindung, die motorisch eingeschränkten Menschen helfen soll: Der Wheelchair Accessibility Belt soll Menschen im Rollstuhl mehr Bewegungsfreiheit verschaffen, ohne dass es für sie zu teuer wird. Erfunden hat den Gürtel Camilla Hurst, Studentin der Oxford Universität, die bereits mit anderen Erfindungen nationale und internationale Preise eingeheimst hat. Details ihres Projekts stellte die junge Forscherin im Juli im Rahmen des International Summer Science Institute (ISSI) in Israel vor.
Wie zentral Bewegungs- und Barrierefreiheit ist, gerade für Menschen mit Behinderungen, um ein autonomes Leben führen zu können, zeigt sich an der Petition zum Adapto-Bus, die fordert, den Transportservice für Menschen mit Behinderungen landesweit gratis zu machen: Sie erhielt binnen weniger Tage die nötigen 4 500 Unterschriften; das Anliegen muss deshalb nach der Sommerpause im Parlament angehört werden.
Kostenlos für wen? Auslöser war die Ankündigung der Regierung, den öffentlichen Transport ab 1. März 2020 gratis zu machen. In seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage des CSV-Abgeordneten Marc Spatz, ob der Adapto-Busdienst für Menschen mit Behinderungen dann ebenfalls kostenlos würde, hatte Transportminister François Bausch (Déi Gréng) zurückhaltend reagiert und den Adapto-Busdienst zunächst mit einem Taxi-Service verglichen. Der Staat komme nur für den Weg zur Arbeit und zurück auf, nicht aber für andere für Fahrten wie zum Sport oder zum Einkaufen. Für solche Hin-und Rückfahrten bezahlt der Nutzer jeweils acht Euro. Eine Einschätzung, die unter Betroffenen Empörung auslöste und Anstoß für besagte Petition war.
Dabei schien Luxemburg sich Meldungen zufolge in den vergangenen Jahren zum Musterschüler in Sachen Barrierefreiheit zu mausern: Da ist die gesetzliche Anerkennung der (deutschen) Gebärdensprache im Sommer 2017. Im Dezember 2017 schaffte es Luxemburg-Stadt erst auf die Shortlist und dann unter die erst drei Preisträger des „Access City Award“, hinter Ljubljana in Slowenien und Lyon. Der Preis wurde von der EU-Kommission ins Leben gerufen, um Städte zu unterstützen, öffentliche Einrichtungen und Transport inklusiv zu gestalten und so zu mehr Barrierefreiheit beizutragen. Ausschlaggebend für die Auszeichnung waren unter anderem die Bemühungen Luxemburgs, mehr barrierefreie Fußwege vorzusehen. Außerdem vergibt das Wirtschaftsministerium mit Info-Handicap das Label „EureWelcome“ an Hotels, Gemeinden, Campingplätze, aber auch an Veranstaltungen, die garantieren, Menschen mit Behinderung effizient und ihren Bedürfnissen gemäß zu empfangen.
Symbolpolitik „Es entsteht der Eindruck, als wäre in Luxemburg alles in Ordnung in punkto Barrierefreiheit“, sagt Patrick Hurst. Der blinde Präsident der Behinderten-Selbsthilfegruppe Nëmme mat eis ist skeptisch: Es habe in den vergangenen Jahren diesbezüglich Verbesserungen gegeben. „Das betrifft vor allem den Kirchberg mit der Tram. Andere Orte sind aber weiterhin schwer oder nur mit Vorlauf zugänglich“, so Hurst. In den Planungen rund um die Tram waren Barrierefreiheits-Experten von Adapth.lu und Info-Handicap einbezogen, um sicherzustellen, dass Gehwegmarkierungen, Fahrstühle, Haltestellen und das Fahrgerät nach dem inklusiven Prinzip Design for all zugänglich gestaltet wurden. Eine Zusammenarbeit, die beim Umbau weiterer Zug- und Tram-Bahnhöfe spielt, wenngleich der langsam vorangeht: Nur 14 von 87 Bahnhöfen tragen bisher das Eurewelcome-Label. Bei den Bushaltestellen ist die Bilanz noch dürftiger. Das Transportministerium hat zusammen mit der CFL einen Masterplan für mehr Barrierefreiheit im Zugverkehr erstellt, aber dessen Umsetzung dauert. Bis dahin verschlimmern sich die Bedingungen teilweise sogar. Gerade in der Hauptstadt kommen die unzähligen Baustellen erschwerend hinzu. „Das ist schon für Menschen ohne Behinderungen ein Hindernislauf. Wie ist es das dann erst für uns?“, fragt Patrick Hurst. Baustellen würden oft ohne Rücksicht auf Menschen mit Behinderungen konzipiert.
Verspäteter Aktionsplan Barrierefreiheit systematisch und transversal zu planen, also von Anfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen mitzudenken, dazu hat sich Luxemburg 2011 mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen verpflichtet. Doch die Arbeiten am Aktionsplan Handicap gehen nur langsam voran. Der Aktionsplan soll Etappen und Marschroute für die kommenden fünf Jahre 2019 bis 2023 festlegen, wie Luxemburg Anforderungen der Behindertenrechtskonvention in konkrete Maßnahmen umsetzen will, beim Transport, bei Arbeit und Beschäftigung, in der Bildung und Ausbildung, bei der gesundheitlichen Versorgung, bei der politischen Beteiligung und anderes mehr.
Sandy Zoller, Leiterin der Abteilung Menschen mit Behinderungen im Familienministerium und Chefkoordinatorin des Plans, ist zuversichtlich. Man habe inzwischen „alle Rückmeldungen und Maßnahmen“ von den zuständigen Ministerien erhalten. In den kommenden Wochen sollen sie in den neuen Aktionsplan eingearbeitet, danach das fertige Dokument den Partnern erneut zugestellt werden. Auf einen genauen Zeitpunkt wollte Zoller sich nicht festlegen. Darüber hinaus sei man auf der Suche nach einer Firma, die die Umsetzung des Plans später auswerten soll.
Patrick Hurst von Nëmme mat eis klingt dagegen weniger optimistisch. „Das Familienministerium hat den Teil, der in seine Zuständigkeit fällt, fertig und uns vorgelegt. Aber von den Maßnahmen anderer Ministerien wissen wir offiziell nichts“, berichtet er. Eigentlich sollten die themenbezogenen Arbeitsgruppen die geplanten Aktionen der Ministerien vorzeitig erhalten, um sie kritisch begutachten zu können und gegebenenfalls Verbesserungen vorzuschlagen. Die Beratungen befänden sich an einem Punkt, so Hurst frustriert, an dem „wir schon im März standen“.
Nicht Vorreiter, vielmehr Nachzügler ist Luxemburg: Der vorige Aktionsplan, ebenfalls unter Führung von Familienministerin Corinne Cahen (DP) ausgearbeitet, war 2017 ausgelaufen – ohne dass ein neuer vorlag. Der alte Plan, die lückenhaften, teils vage gehaltenen Angaben zu Ressourcen und Fertigstellung, sowie seine zögerliche Umsetzung hatten damals für viel Schelte gesorgt, nicht nur von Betroffenen. Bei der Vorstellung des Länderberichts Luxemburgs vorm Ausschuss der Vereinten Nationen im August 2017 in Genf, der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention analysiert, waren die Prüfer alles andere als zufrieden. Teils ging es gar um Grundsatzfragen: Behinderung werde vom Luxemburger Staat und von Verwaltungen eher medizinisch betrachtet und die soziale Dimension somit unterschätzt, bemängelten die Experten, die dem Staat einen Berg an Hausaufgaben mitgaben. Laut Joël Delvaux, Mitglied von Nëmme mat Eis, sind viele davon unerledigt geblieben: „Die Anerkennung der Gebärdensprache wurde zu Recht gefeiert. Die Gehörloseninitiative Daaflux hat 20 Jahre dafür gekämpft. Aber die Umsetzung hängt total.“ Heute arbeiteten die einzigen zwei Gebärdendolmetscher für das Familienministerium; wer privat eine Gebärden-Übersetzung braucht, müsse sich oft teuer Hilfe aus dem Ausland kommen lassen, so Delvaux.
Keine Priorität Nicht viel besser sei es bei der Beschäftigung: Laut Adem sind 18 Prozent der Arbeitnehmer mit einer Behinderung in der Privatwirtschaft beschäftigt, obwohl Firmen gesetzlich dazu verpflichtet sind, bei mehr als 50 MitarbeiterInnen mindestens zwei Prozent Menschen mit einer Behinderung einzustellen. Die Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, um Unternehmen, die Beratung bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung wollen, zu unterstützen. „Aber wer einen Jobcoach will, der muss warten“, so Delvaux, der beim OGBL Beschäftigte mit Behinderungen berät. Für Delvaux steht fest: Viele der staatlichen Initiativen seien „reine Symbolpolitik“ und gingen über Sensibilisierungsmaßnahmen kaum hinaus. „Die zugrundeliegenden Strukturen tastet kaum jemand an“, so sein desillusioniertes Fazit. In vielen Ministerien habe die Gleichstellung von behinderten Menschen „nach wie vor keine Priorität“.
Der neue Plan soll das Recht auf autonome Lebensführung für Menschen mit Behinderungen stärker fördern. Dabei geht es unter anderem um die noch immer ungelöste Frage der persönlichen Assistenz; das Familienministerium arbeitet an einem Konzept. Weil einer der Kritikpunkte des UN-Komitees die mangelhafte Beteiligung der Betroffenen an der Ausarbeitung des Plans war, bemühte sich das Ministerium, sie und ihre Vertretungen dieses Mal besser einzubinden. Das gelang weitgehend: Es wurden Arbeitsgruppen zu acht Themenbereiche gebildet. Es gibt eine Steuerungsgruppe, in der der Informationsdienst Info-Handicap vertreten ist.
„Wir haben uns von den Beratungen viel erwartet“, sagt dessen Leiter Olivier Grüneisen. In den Gruppen habe man sich inhaltlich einbringen können. Aber beim Treffen im Juni, als die Aktionen der anderen Ministerien vorgestellt werden sollten, damit Betroffene und ihre Verbände Feedback geben konnten, fehlten viele Bestandteile und Themen, wie etwa die Justiz, die noch immer an der Reform des Vormundschaftsgesetzes doktert, oder das Transportministerium, dessen Gesamtkonzept zur Barrierefreiheit ebenfalls nicht vorlag. Nicht einmal alle zuständigen Beamten waren zum Treffen erschienen, um ihre Vorschläge wenigstens mündlich zu erläutern. „Wir brauchen die Ansprechpartner aus den Ministerien, sonst geht es nicht voran“, mahnt Grüneisen. Am Familienministerium liegt die Nachlässigkeit nicht: Es hat brav seine Hausaufgaben gemacht, allerdings nehmen andere Ministerien die Auflagen der UN-Konvention offenbar nicht so ernst. „Deswegen fordern wir einen unabhängigen Behindertenrechtsbeauftragten“, so Joël Delvaux von Nëmme mat eis. Will Cahen im Winter einen Aktionsplan vorstellen, ist sie auf mehr Unterstützung ihrer KabinettskollegInnen angewiesen.
Immerhin: Beim Thema Adapto hat Info-Handicap zwei Briefe ans Transportministerium geschrieben und um eine Anhörung gebeten; sie soll am 9. September stattfinden. Ein anderer Dauer-Zankapfel ist die schulische Inklusion. Die Integration der Sonderpädagogik in die Regelschule geht schleppend vonstatten und die Zuständigkeiten und Prozeduren, um etwa Entscheidungen der Lehrer anzufechten, sind selbst für Eingeweihte schwer zu durchschauen. Mit Bildungsminister Claude Meisch (DP) ist ein Treffen im Oktober vorgesehen. „Wenn sich nicht alle Beteiligten beeilen, könnte sich der Zeitrahmen des Aktionsplans erneut verschieben“, warnt Grüneisen. Das würde nicht zuletzt in Genf gar nicht gut ankommen, wenn Luxemburg zum 26. Oktober 2021 erneut einen Länderbeicht vorlegen und sich den prüfenden Fragen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellen muss.