Wunder Als im August 2018 ein luxemburgischer Fußballverein den Einzug in die Europa League schaffte, war die europäische Presse entzückt. „Das Wunder von Düdelingen“ titelten das Kicker Sportmagazin sowie die Neue Zürcher Zeitung, andere sprachen nicht minder begeistert von „Sensation“ oder gar von einem „Fußballmärchen“. Die europäische Journaille konnte die Schatulle der Underdog-Geschichten öffnen und Düdelingen zum gallischen Dorf im europäischen Fußball erklären – ein Fußballzwerg, der dem Millionengeschäft trotzt. Alle waren sich einig: Dieser Erfolg ist einmalig, ein Kunststück, das dem Amateurverein kein zweites Mal gelingen wird.
Doch ein Jahr später hat F91 Düdelingen es wieder geschafft. Der Verein hat am Donnerstag sein erstes Spiel in der Gruppenphase der Europa League gegen APOEL Nikosia bestritten. Zwar sagen Fußballexperten, dass F91 Düdelingen bei seinen drei Qualifikationsgegnern Losglück hatte und gegen vermeintlich leichtere Gegner antrat – aber es waren erneut nur Vereine aus Profiligen mit deutlich höheren Budgets. Entgegen aller Erwartungen reist Düdelingen als gallisches Dorf nun ein zweites Mal durch Europa, um sich mit Gegnern wie dem FC Sevilla zu messen, dem Rekordsieger der Europa League.
Stade Josy Barthel, vergangene Woche: Dave Turpel hat gerade den 1:2 Anschlusstreffer gegen Serbien geschossen. Es läuft die 66. Spielminute, noch bleibt fast eine halbe Stunde, das Spiel zu drehen. Und genau das hat die luxemburgische Nationalmannschaft vor: Die Mannschaft drückt den Favoriten aus Serbien tief in die eigene Hälfte, erspielt sich Chance um Chance. Am Ende wird sie 23 Mal auf das gegnerische Tor geschossen haben – die Serben gewinnen trotzdem mit 3:1. Aber die rund 6 000 Zuschauer im Stade Josy Barthel klatschen, verneigen sich vor der Leistung des FLF-Teams.
Es passiert gerade etwas im luxemburgischen Fußball. Sowohl F91 Düdelingen als auch die Nationalmannschaft feiern Erfolge und spielen dazu noch einen ansehnlichen Fußball. Das sind die Früchte einer schleichenden Professionalisierung im luxemburgischen Fußball, sagen die einen. Beides, den Erfolg von F91 und Nationalmannschaft, müsse man getrennt betrachten, sagen die anderen. Doch nahezu alle sind sich einig: So gut wie jetzt war der luxemburgische Fußball noch nie.
Erkenntnis „Nondidjëft, mir kënne kee Fussball méi spillen“, sagt Paul Philipp. Das habe er irgendwann vor mehr als zehn Jahren feststellen müssen. Es ging nicht um Ergebnisse, sondern um die Art und Weise, wie die Nationalmannschaft sich präsentierte: als Gurkentruppe, die bestenfalls Tore verhindern konnte. Philipp ist seit 2004 Präsident der Féderation luxembourgeoise de Football und seit einer gefühlten Ewigkeit Teil des Fußballzirkus. Als Spieler wurde er 1969 zum Monsieur Football gewählt, als Trainer war er dabei, als Luxemburg 1995 den späteren Europameisterschaftsfinalisten Tschechien besiegte. Sein Schnauzer ist ebenso Kult wie seine leidenschaftlichen „Ohjoos“, wenn er ein Fußballspiel auf RTL kommentiert. Für Philipp wurde der Grundstein des heutigen Erfolgs im Jahr 2000 gelegt. Damals beschloss der Fußballverband gegen großen Widerstand der Vereine, ein nationales Fußball-Leistungszentrum in Monnerich zu bauen. Doch Infrastruktur allein schießt noch keine Tore.
Die ersten Jahre waren verschenkt. Denn es fehlte an einer klaren Strategie und an Knowhow. Also ist der Fußballverband ins Ausland aufgebrochen, um sich die Fußballakademien von Profiteams wie Ajax Amsterdam, FC Bayern München, FC Anderlecht, aber auch von FC Freiburg oder FSC Mainz 05 anzuschauen. Das Ziel: erfolgreiche Strategien abschauen und reproduzieren. Vom rund sieben Millionen schweren Budget, das der FLF jährlich zur Verfügung steht, steckt der Verband heute allein 1,5 Millionen Euro in die Fußballschule. Sie ist das Herzstück des Luxemburger Fußballs mit mehreren festangestellten Trainern, Videoanalysten und Physiotherapeuten.
Stratege „Ich kenne alle Talente aus Luxemburg – ausnahmslos alle“, sagt Reinhold Breu. Er zeigt auf vier Fußballtafeln an der Wand. Darauf befinden sich Porträts von Jugendlichen. Es sind die 220 besten Jugendfußballer, geordnet nach Alter, Position und Talent. Breu kann zu jedem von ihnen eine Geschichte erzählen, weiß, wie ihre aktuelle Form ist, wo ihre Stärken liegen und wo sie noch Nachholbedarf haben. Der gebürtige Bayer ist seit 2011 technischer Direktor in Monnerich, er hat die Fußballinternate von FC Bayern München und 1860 München als Talent von innen gesehen, war später Profi in Deutschland und Österreich und widmet sich seit Karriereende der Nachwuchsförderung. Nach hinten gegeltes Haar, Hemd von Tommy-Hilfiger-Hemd und ein Akzent, der es mit dem von Lothar Matthäus aufnehmen kann: Als „arroganten Parvenü aus Bayern“ haben Fußballfunktionäre in Luxemburg ihn zu Beginn bezeichnet. Ein Fremder, der sich nicht um Gepflogenheiten schert und tradierte Machtstrukturen ignoriert. Tatsächlich ist Breu nicht nach Luxemburg gekommen, um sich Freunde zu machen. „Ach, der Klüngel!“, sagt Breu und schüttelt den Kopf. Das alles interessiere ihn nicht, Politik interessiere ihn nicht. „Als ich hier ankam, bestand das A-Nationalteam aus drei Profis und 17 Amateuren“, so Breu. Heute sind es fast 40 Luxemburger, die in ausländischen Profiligen unter Vertrag stehen. Das interessiere ihn.
„Er ist kein einfacher Gesell“, sagt auch FLF-Präsident Philipp, „aber er ist ein exzellenter Trainer.“ Philipp hat Breu 2010 eingestellt und ihn zu seinem Leutnant ernannt. Er soll, neben Nationaltrainer Luc Holtz, die Strategie der FLF umsetzen und das Maximum aus den rund 17 000 Jugendspielern in Luxemburg herausholen. Und Breu nimmt seinen Auftrag ernst. Er redet von Technik, Handlungsschnelligkeit und Einstellung. Aber vor allem von Mentalität. Er will Spieler, die mit breiter Brust vorangehen, die hungrig auf Erfolg sind und Fehler wegstecken können. Der Kopf und nicht die Füße würden entscheiden, ob ein talentierter Kicker es schafft, im Profigeschäft zu bestehen.
Und wenn er so redet, erinnert er fast an einen neoliberalen Investmentbanker, der alles der Rendite unterjubelt und Gier zur absoluten Tugend erklärt. Erfolg um jeden Preis, Ellenbogenmentalität explizit erwünscht. Aber tatsächlich sei nur so der Weg aus dem kleinen Luxemburg in die große, millionenschwere Welt des Fußballs möglich. Am Ende seien es „Details“, die den Unterschied machen: „Wer hat noch in der 89. Minuten den absoluten Willen, einen vollen Sprint zu einzulegen.“
Breu hat den aktuell teuersten Spieler Luxemburgs trainiert, Christopher „Kiki“ Martins, der für rund 2,5 Millionen Euro in die Schweiz zu Young Boys Bern gewechselt ist. Aber auch Leandro Barreiro, ein Mittelfeldspieler des deutschen Bundesligisten Mainz 05. Oder auch den 18-jährigen Ryan Johansson von Bayern München, der sich jedoch noch nicht definitiv entschieden hat, ob er für Luxemburg oder Schweden auflaufen will. Es ist eine erstaunliche Breite an qualitativ hochwertigen Spielern, die den derzeitigen ansehnlichen Fußball von Luc Holtz im Nationalteam prägen. Aber Sportdirektor Breu glaubt, dass Luxemburg noch mehr Potenzial hat und mit besseren Strukturen noch mehr Fußballspieler den Weg in benachbarte Profiligen schaffen.
Konkurrenz Der Erfolg der Fußballschule stößt bei den luxemburgischen Fußballvereinen nicht nur auf positive Resonanz. F91 Düdelingen begrüßt zwar grundsätzlich das Engagement im Jugendbereich, sieht die FLF aber eher als Konkurrent, denn als Partner. Der große Vorwurf: Die FLF würde sich lediglich für die Nationalmannschaft interessieren und die BGL Ligue verkümmern lassen. Tatsächlich ist der Weg, den F91 Düdelingen geht, ein anderer wie die FLF. Und der Erfolg hängt vor allem mit einem Namen zusammen: Flavio Becca. Der Unternehmer pumpt seit Ende der 1990-er-Jahre Millionen in den Verein und schafft damit künstlich Bedingungen, von denen andere Vereine nur träumen können. Das Budget liegt aktuell bei rund drei Millionen Euro im Jahr. Das reicht für 20 Berufsfußballer in einem Europa-League-Kader von 23 Spielern. Laut einem Tageblatt-Artikel von 2018 gibt es rund 80 Berufsfußballer in der gesamten BGL Ligue, die zwischen 2 500 und 7 000 Euro verdienen. Ihre Gehälter werden zum großen Teil von Mäzenen finanziert, die allesamt aus dem Immobilienbereich kommen: Fabio Marcochi (Tracol immobilier) unterstützt Progrès Niederkorn, der Immobilienunternehmer Fabrizio Bei steht hinter dem FC Differdingen 03 und der FC Victoria Rosport wird von Immoflex unterstützt. Trotzdem würde niemand von einer Profiliga sprechen: Infrastruktur, Vermarktung und Vereinsstrukturen sind zutiefst provinziell.
Und gerade hier nimmt F91 Düdelingen den Verband in die Verantwortung: „Es fehlt uns an einer klaren Vision für die luxemburgische Liga“, sagt Manou Goergen. Der KPMG-Berater ist mit seinen 30 Jahren jüngstes Mitglied des F91-Verwaltungsrats. Er hat an der London School of International Business studiert und eine Abschlussarbeit über die Möglichkeiten der Kommerzialisierung der luxemburgischen Fußballliga geschrieben. Das hat den damaligen Fußballfunktionär Guy Hellers sowie F91-Präsident Romain Schumacher so schwer begeistert, dass sie ihn gleich in die Vereinsstruktur einbanden.
Nation Branding Wenn es nach Goergen geht, sollte die BGL Ligue sich zu einer Profiliga entwickeln. Nach dem Vorbild von Österreich könnten nur noch acht Teams gegeneinander antreten, anders als bisher 14. Dadurch würde sich das Niveau sukzessive steigern. Zudem müsste die öffentliche Hand mehr in Infrastruktur investieren und der Verband den Vereinen mehr Möglichkeiten geben, die Verwaltungsstruktur zu professionalisieren. Denn trotz des doppelten Europa-League-Einzugs hat F91 Düdelingen ein Problem: Flavio Becca will sein finanzielles Engagement im kommenden Jahr beenden. In Düdelingen sucht man händeringend nach einem neuen Geldgeber, aber das dürfte nicht leicht werden. „Wir können keinem Sponsor etwas bieten“, sagt Goergen. Die Zuschauerzahlen der BGL Ligue sind schwach und seit Jahren im Sinkflug, es gibt keine Sichtbarkeit, selten Fernsehübertragung und der Stellenwert, der luxemburgischen Fußballliga gilt als gering. „Das kann so nicht weiter gehen“, so Goergen.
Der KPMG-Berater organisiert dabei wie im vergangenen Jahr den Europa-League-Auftritt von Düdelingen. Er muss Flüge buchen, Pressekonferenzen organisieren, die Torlinientechnik installieren und ein gesamtes Protokoll abarbeiten. Kurz: sämtliche Vorgaben der UEFA erfüllen. Damit das klappt, muss sein Arbeitgeber mitmachen und Flexibilität bei den Arbeitsstunden zeigen. Im vergangenen Jahr erhielt er so viel Urlaub, wie er benötigte, in diesem Jahr zahlt Becca eine Abfindung an KPMG. „Das ist auf Dauer nicht zu stemmen“, so Goergen. „Andere Vereine stellen 50 Funktionäre ein, um meinen Job zu erfüllen.“ Auch hier fühlt Goergen sich in seiner Überforderung vom Verband im Stich gelassen: „Ich habe nahezu keine Unterstützung erhalten.“ Das sei schade, denn letztlich sei die abenteuerliche Geschichte von Düdelingen in Europa auch eine Visitenkarte für Luxemburg. „Wir machen Nation Branding“, so Goergen.
Dabei ist die Europa League ein lukratives Geschäft: Rund 500 000 Euro erhält der Luxemburger Meister, um an den Qualifikationsspielen teilzunehmen, beim Einzug in die Gruppenphase kommen rund 2,5 Millionen Euro hinzu. Und pro Punkt in der Gruppenphase sind es noch weitere hunderttausend Euro. „Wir versuchen, so viel Geld zur Seite zu legen wie möglich“, sagt Goergen. Aber dennoch müsste sich langfristig etwas ändern. Sonst müsste Düdelingen vollkommen neue Wege einschlagen und notfalls darüber nachdenken im Ausland mitzuspielen. Eine internationale Strategie hat mittlerweile auch Unternehmer Flavio Becca im Sinn: Er hat sein Engagement nach Virton und Kaiserslautern verlagert und nutzt die Luxemburger Vereine Hesperingen und Düdelingen nur noch als Ausbildungsstätte für den Absprung in ausländische Profiligen. Allein 71 Spieler hat er in diesem Sommer transferiert.
Reinhold Breu, der Direkor der Fußballschule in Monnerich, hält die Professionalisierungspläne von Düdelingen für „Gehabe“, ist aber vom Engagement von Flavio Becca durchaus angetan. Das müsse man anerkennen. Und letztlich hätten alle das gleiche Ziel: guter Fußball in Luxemburg.