Datenwolken, Avatare und 3D-Drucke: das Museum der Zukunft wird virtuell und digital

Besser als die Originale

d'Lëtzebuerger Land vom 10.10.2025

Manche Dinge werden immer gleich bleiben: Kinder können Mitmach-Stationen sehr viel schneller schrotten als Techniker sie wieder reparieren. Das Deutsche Museum macht diese Erfahrung schon seit über 100 Jahren. In der Schweiz geht es interaktiven Experimenten jetzt nicht besser: Für die digitale Rekonstruktion eines Pavillons von Le Corbusier wurden 160 Millionen Datenpunkte erfasst – aber die Virtual-Reality-Headsets, um darin herumzuwandern, sind momentan kaputt.

Ansonsten können Avatare und KI durchaus Unanschauliches und Verborgenes sichtbar machen. Das Museum für Gestaltung in Zürich präsentiert gerade eine museumstechnische Leistungsschau: aktuelle Digitalprojekte, vor allem des Labors für experimentelle Museologie der EPF Lausanne, aber auch von verschiedenen Zürcher Hochschulen.

Insekten sind zu klein und unscheinbar? Das Naturhistorische Museum der Uni Zürich scannt sie ein. Die 3D-Modelle können dann beliebig vergrößert und von allen Seiten betrachtet werden: „Die Begegnung auf Augenhöhe kann das Bild von Insekten verändern und und Vorurteile verringern.“ Das Panorama-Gemälde Schlacht von Murten, im Jahr 1893 in patriotischem Überschwang auf fast tausend Quadratmeter ausgewalzt, ist dagegen für Museen viel zu groß und wird in einem unzugänglichen Depot der Schweizer Armee eingelagert? Das wird auch eingescannt! Die Kopie, mit 1,6 Billionen Pixeln derzeit das größte digitale Bild der Welt, zeigt jeden Pinselstrich, jeden noch so kleinen Riss der Leinwand. In das Original könnte man niemals so nah hineinzoomen.

Wer hätte gedacht, dass einmal Sammlungen von Reproduktionen wieder beliebt werden? Heutzutage geht es allerdings nicht mehr darum, einfach Gipsabgüsse antiker Statuen zusammenzutragen. Indische und Schweizer Forscher haben Skulpturen aus dem Bihar Museum mittels Fotogrammetrie dokumentiert und dann zu hochaufgelösten 3D-Modellen zusammengesetzt. Die menschengroße DisplaySäule Double Truth II erlaubt nun zum Beispiel die schweineköpfige Fruchtbarkeitsgöttin Varahi aus nächster Nähe zu bestaunen. Oder den Ghandaran Bodhisattva. Oder eine hellenische Tänzerin. Zu den hochpräzisen, detaillierten digitalen Replikaten gibt es jeweils passende Musik, etwa vedische Gesänge oder buddhistische Hymnen.

In der Kolonialzeit plünderten britische Truppen das Königreich Benin, heute ein Teil von Nigeria. Die zur Finanzierung der „Strafexpedition“ in alle Welt verkaufte Raubkunst wird nun wieder virtuell vereint: Die Plattform Digital Benin bietet bereits Fotos und Informationen zu knapp 5 300 Objekten aus 139 Institutionen in 21 Ländern. Mit 3D-Druck können handfeste Kopien angefertigt werden. Dass sich auch bei Digitalisaten Fragen zu Eigentum und Rückgabe stellen, etwa zu Reproduk-
tionsrechten, zeigt allerdings eine Aktion des Künstler-Duos „Looty“: Chidi Nwaubani und Ahmed Abokor haben im British Museum mit LiDAR-Technologie Benin-Bronzen gescannt, um sie „zurück zu stehlen“. Aus den Scans fertigten sie digitale Skulpturen; die dazu verkauften Non-Fungible Tokens (NFT) sollen nun Stipendien für afrikanische Künstler finanzieren.

Am meisten Freude bereiten in der Zürcher Ausstellung wahrscheinlich die virtuellen Nachbauten der Marionetten von Sophie Taeuber-Arp. Das originale Puppenspiel König Hirsch von 1918 darf aus konservatorischen Gründen nicht mehr bewegt werden; abgesehen davon wären verstaubte Puppen in einer Vitrine auch eine eher triste Veranstaltung. Die Avatare von Dr. Komplex, Freud-Analytikus und anderen Figuren können nun aber von den Besuchern mit ihren Körperbewegungen gesteuert werden. Tanzen mit der Avantgarde!

Wer mesopotamische Keiltafeln oder mittelalterliche Handschriften lesen kann und sich deshalb als hochgebildeter Spezialist für unersetzlich hält, erlebt dagegen möglicherweise gerade einen schockierenden „Kodak-Moment“. Mittlerweile kommen Roboter ganz gut allein zurecht: Mit Hilfe von KI lassen sich riesige Textmengen im Handumdrehen scannen, transkribieren, in verschiedenste moderne Sprachen übersetzen und so aufbereiten, dass sie per Volltextsuche durchstöbert werden können. Wer wissen will, was in den mehr als 12 000 Briefen steht, die von dem Zürcher Reformator Heinrich Bullinger erhalten geblieben sind, muss nicht mehr an den fragilen Originaldokumenten herumfingern.

Ganz ungeklärt bleibt die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch klassische Musentempel braucht. Viele Originalobjekte dürfen ohnehin nicht angefasst werden und sind in verschlossenen Depots besser aufgehoben als in einem Museumssaal. Und wo Server und andere Apparaturen stehen, ist eigentlich egal. Wenn Exponate einmal digitalisiert sind, können sie jederzeit und überall nach Belieben betrachtet werden. Vorausgesetzt, das ganze Kabel-, Elektronik- und Bildschirm-Gerümpel funktioniert so wie versprochen.

Die Ausstellung Museum of the Future – 17 digitale Experimente ist noch bis 18. Januar 2026 im Zürcher Museum für Gestaltung zu sehen: museum-gestaltung.ch

Martin Ebner
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