Die kleine Zeitzeugin

Die Sau durchs Dorf jagen

d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2023

Noch schnell will ich Corsage anschauen, noch einmal, dieses Meisterinnenwerk der Regisseurin Marie
Kreutzer, noch einmal eintauchen in die weite Landschaft des Antlitzes von Vicky Krieps. Bevor der Film nach einem halben Jahr von den Wiener Kinoleinwänden verschwinden wird. Und dann taucht ein Name in allen österreichischen Medien auf, auch schon in deutschen, ein Gesicht taucht auf, und noch mal dieses Gesicht mit diesem Namen, noch mal und noch mal und noch mal. Und in Verknüpfung damit das unserer Gesellschaft, und vermutlich nicht nur unserer, als das Ungeheuerlichste Erscheinende.

Es ist der Name und das Gesicht des Schauspielers, der die Rolle des österreichischen Kaisers in Corsage spielt. Die Anklage lautet auf Besitz pornographischer Darstellungen Minderjähriger auf zumindest 58 000 Dateien, der Schauspieler hat sich schuldig bekannt. Analoge Delikte werden ihm nicht vorgeworfen.

Corsage wird sofort aus dem Programm genommen werden, heißt es gleich. Und an der Oscar-Verleihung wird der Film auch nicht teilnehmen. Wurde schnell genug reagiert? Eine Krimi-Serie hat den Hauptdarsteller schon nach ersten Gerüchten elegant verabschiedet. Burgtheater und Film-Regisseur*innen aber wird vorgeworfen, zu lange gekonnt weggeschaut zu haben. Jetzt, wo sein Gesicht die Titelseiten der Zeitungen und die Headlines der Nachrichten beherrscht, kämen die Absetzbewegungen ein bisschen spät. Zu spät.

Aus allen Richtungen kommen dafür die Hinrichtungen. Entsetzen, Ekel, Abscheu werden nonstop in den sozialen und den altmodischen Medien bekundet, kaum jemand, der nicht darauf hinweist, wie widerlich, wie Grauen erregend all das ist. Sogar von denen, die bezweifeln, ob es angemessen sei, ganze Film-Crews und Theaterproduktionen mit einem Bann zu belegen, die Arbeit unzähliger Kreativer auszulöschen wegen der Tat eines Einzelnen. Als wäre die Scheußlichkeit des Scheußlichen nicht für die allerallermeisten sowieso klar.

In einer Zeit, in der Vergewaltiger und Mörder*innen in den Medien meist nur unscharf, verpixelt und höchstens unter Angaben der Initialen zu sehen sind, schallt ein Name landauf landab, das Gesicht ist mittlerweile Allgemeingut. Es ist noch nicht lange her, da wurden Mörder*innen in den Boulevardblättern, aber nicht nur dort, Ungeheuer und Bestien genannt. Un-Menschen. Sie waren jenseits des Menschlichen angesiedelt, aus der Menschheit verstoßen. Im Mittalter gab es den Pranger, heute wird die Sau durch das digitale Dorf getrieben. Es gibt kaum ein Entrinnen. Die Medien haben wieder ihr Monster, auch wenn sie es nicht mehr so nennen.

Mitleid mit einem Täter? Auch noch mit soo einem? Ja, Mitleid kann es nicht genug geben, auch wenn dieses Gefühl nicht mehr dem Zeitgeist entspricht, Empathie ist etwas anderes. Und das Mitleid mit den als digitales Konsumgut missbrauchten Kindern muss man ja wohl nicht vor sich hertransportieren wie eine Monstranz, es ist selbstverständlich.

Solidarität aber auch mit jenen, die in eine antike Sippenhaft geraten. Die vollkommen schuldlos besudelt stehen wegen Tat oder Untat eines Einzelnen. Was kann Vickie Krieps für die Abgründe ihres Filmgatten? Wie sollen Gemeinschaftsproduktionen je zustande kommen, wenn Wahnsinn oder Krankheit oder kriminelle Energie eines Mitwirkenden alles vernichten kann? Wie kann eine Regisseurin die Hände ins Feuer legen für alle? Sollen Künstler*innen in Zukunft durch und durch geröntgt werden, Sittlichkeits-Atteste erbringen, die totale Cleanness unter Beweis stellen? Beichten ablegen mit Bußgelübden? Und wenn es sich gar um eine überführte Hauptdarstellerin handelt, ist das Werk dann noch zu retten? Wie abgründig darf eine*r noch sein, leicht, mittel, schwer? Muss Künstler*in den totalen Normalitätsnachweis erbringen? Entscheidet die Justiz oder das kotz Bauchgefühl?

Die Debatte erinnert an die Museumsdebatte, die jüngst aufflammte bei Werken toter, weißer Künstler. Corsage wird doch noch ins Rennen um den Oscar gehen. Ob es eine Chance hat im moralbesessenen Amerika? Jetzt, wo lastminute auch noch Vorwürfe sexueller Belästigung eines anderen Mitwirkenden aufgetaucht sind.

Michèle Thoma
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