International Film Festival Rotterdam

Outside the box, inside

d'Lëtzebuerger Land vom 11.02.2022

Während der Pressekonferenz des Luxembourg City Film Festivals, bei der das Programm der diesjährigen Ausgabe enthüllt wurde, wurde auch ein neues Label ins Leben gerufen. Ein sogenanntes „Outside the Box-Label“, welches Filme hervorheben möchte. „Le label Outside the Box sera attribué (...) soit à des films hybrides soit à des films présentant des écritures nouvelles.“ Wenn man dieses Label beim International Film Festival Rotterdam anwenden würde, wäre nur eine Handvoll Werke nicht abgestempelt. Und bis auf wenige Vorstellungen gegen Ende des Festivals musste auch diese zweite Ausgabe des IFFR unter der künstlerischen Leitung von Vanja Kaluđerčić quasi outside the box, außerhalb des Kinosaals stattfinden.

Witzigerweise ist aber gerade der Gewinner der Big Screen Competition – des zweiten Wettbewerbs des IFFR –, Kung-Fu Zohra des französischen Regisseurs Mabrouk El Mechri, eben einer dieser Filme, dem man auf den ersten Blick das Outside the Box-Label nicht geben würde. Außerdem dürfte El Mechri hierzulande einigen noch in Erinnerung sein. Samsa Film hat vor über zehn Jahren JCVD, El Mechris sehr aware Abhandlung der „Muscles from Brussels“, Jean-Claude Van Damme mitproduziert. Kung-Fu Zohra ist weniger Meta-Kommentar als ein Film mit einem ernsten Thema, eingehüllt in einen Genrefilm. Die tunesische Zohra lernt Omar kennen und lieben – Bruce Lee und Jackie Chan sind Cupidos! –, die beiden heiraten und ziehen in Paris zusammen. Erst mit der Zeit lernt Zohra die eifersüchtige Seite ihres Lebenspartners kennen. Und als es während eines Streits zu einer Ohrfeige kommt, ändert sich die Dynamik im Haushalt. Irgendwann sieht Zohra keinen anderen Ausweg als die Scheidung. Aber sie sieht auch das gemeinsame Kind, das seinen Vater liebt.

Kung-Fu Zohra ist kein Hybridfilm und schlägt auch nicht den Weg einer écriture nouvelle ein. Es ist ein klassisch erzählter, durchaus massentauglicher Film, der den Versuch startet, das Thema der häuslichen Gewalt mithilfe von The Karate Kid zu kanalisieren (eine Mister Miyagi-Trainerfigur inklusive). Überraschend ist, wie El Mechri sich in das Kung-Fu hereinkniet und Kung-Fu Zohra auch irgendwann zu einem Kung-Fu-Film geraten lässt. Einige werden dem Film eine (vielleicht verständliche) Trivialisierung des verhandelten Themas vorwerfen, aber das befreiende kathartische Moment bleibt trotzdem bestehen. Sabrina Ouazani – kürzlich in Plan cœur auf Netflix und übrigens auch in Dina Amers Tu me ressembles beim diesjährigen Lux Film Fest zu sehen –, bringt mit ihrer Performance diese Mischung aus Schwere und Leichtigkeit mit sich, die sie dazu prädestiniert, vielseitig einsetzbar zu werden.

Der Tiger Award, der Hauptpreis des Rotterdamer Filmfestivals, ging diesmal nach Paraguay, an Eami, den neuen Film der Regisseurin Paz Encina. Dieser Film könnte den Outside the Box-Stempel doppelt und dreifach aufgedrückt bekommen. Wie so oft in Rotterdam, verschwimmen auch bei Eami die Grenzen der Fiktion und des Dokumentarischen. Encina erzählt auf eine alles andere als konventionelle Weise vom Leben und von der Verdrängung der Ayoreo, einer indigenen Volksgruppe, die in Paraguay und Bolivien lebt. Die Ayoreo – zwischen 4 000 und 6 000 an der Zahl – stehen im Film stellvertretend für die isolierten Naturvölker, denen ein ähnliches Schicksal blüht. Eami bedeutet Welt und Wald zugleich, was im Hinblick auf die Geschichte die gleiche Bedeutung hat. Sogar die Protagonistin trägt diesen Namen. Sie hört man jedoch fast ausschließlich als Off-Stimme, und ist (vielleicht gemeinsam mit ihrem Großvater) auf der Suche nach einem Freund, der nach einem Überfall auf den gemeinsamen Stamm – um die Abholzung des Gran-Choco-Dschungels vorzubereiten – verschollen ist.

„The powerful film (...) succeeds in building a strong narrative that not only sustains itself visually, politically and als poetically, putting the light on the global massacres of indigenous tribes. (...) This film gave us the opportunity to dream and at the same time the chance to wake up“, so die Jury in ihrer Begründung für diese Preisvergabe aus einer Auswahl von insgesamt 14 Spielfilmen. Eami ist nicht nur visuell und erzählerisch ein Hybridwerk. Er lässt auch bis zum Schluss offen, welcher oder welchem Eami die flüsternde Stimme gehört, die einen durch den Gran Chaco und den Film begleitet. Ist die Kamera, die die impressionistischen Bilder einfängt und auf der Suche ist, der Blick eines Vogels, eines Menschen, der des Waldes oder der Welt? Oder vielleicht doch der von umherirrenden Geistern, die scheinbar vergeblich ihren Frieden suchen und sogar dann alleine sind und auf Antworten warten? „If they kill us, best if they kill us all, so no one is left to regret it.“ Eami ist alles gleichzeitig und Paz Encina inszeniert die Einsamkeit im Dschungel wie einst Antonioni den urbanen Raum.

Die Preise des International Film Festival Rotterdam 2022

Tiger Award: Eami von Paz Encina

Special Jury Awards: Excess Will Save Us von Morgane Dziurla-Petit, sowie To Love Again von Gao Linyang

VPRO Big Screen Award: Kung-Fu Zohra von Mabrouk El Mechri

Ammodo Tiger Short Competition Awards: Becoming Male in the Middle Ages von Pedro Neves Marques, Nazarbazi von Maryam Tafakory und Nosferasta: First Bite von Bayley Sweitzer und Adam Khalili

Robby Müller Awards: Sayombhu Mukdeeprom (thailändischer Kameramann)

VriendenLoterij Audience Award: Freaks Out von Gabriele Mainetti

Fipresci Award: To Love Again von Gao Linyang

KNF Awards der niederländischen Filmpresse: Punctured Sky von Jon Rafman

Tom Dockal
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