Kino

Verlorene Gestalten

d'Lëtzebuerger Land vom 28.01.2022

Man sieht es diesem Stanton Carlisle (Bradley Cooper) in den letzten Filmeinstellungen deutlich an, dass von der einzigartigen Mischung aus Härte und Verletzlichkeit, die ihn ausgezeichnet hatte, nur noch Desillusion übriggeblieben ist. Diesen Wandel nachvollziehbar werden zu lassen, wie aus Menschen verlorene Gestalten werden, ist das erklärte Ziel von Guillermo del Toros neuem Film Nightmare Alley. Sein Überleben sichert dieser Stan sich bloß durch Lavieren, indem er sich einer Zirkusgesellschaft anschließt und dort immer mehr auf seine eigenen Vorteile bedacht handelt. Die Selbstverständlichkeit, mit der er vorgeht, wird relativiert; er hat offenbar eine dunkle Vergangenheit, hat sich etwas zu Schulden kommen lassen, aber die Sehnsucht nach menschlicher Wärme nicht verloren. Die findet er bei Molly (Rooney Mara). Mit ihr träumt er von mehr als nur dem Zirkusdasein, wo er inmitten von Kraftmenschen, Beweglichkeitskünstlern und geistig gestörten Carnival geeks lernt, das Tricksen und Betrügen zu seinem Handwerk zu machen. Er gibt die kleine für die große Welt auf und beschließt, mit Molly nach New York zu ziehen, wo er der oberen Gesellschaftsschicht als falsches Medium, als betrügerischer Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, hohe Geldsummen abknöpft. Doch mit der zwielichtigen Psychologin Lilith (Cate Blanchett) hat Stan nicht gerechnet…

Guillermo del Toro war immer schon der Filmemacher, der den Unverstandenen, den Ausgegrenzten, ja den Fehlerbehafteten eine Stimme zu geben versuchte. Die Essenz all dessen kulminiert für ihn in der Gestalt des Monsters. Kaum ein anderer zeitgenössischer Regisseur hat das Wesen des Monsters eindringlicher befragt als der 57-jährige Mexikaner del Toro. So konnte er noch mit The Shape of Water (2017) dem Horrorfilm in einer romantischen Neulektüre von The Creature of the Black Lagoon (1954) wichtige Impulse einschreiben. Auch in Nightmare Alley ist sein Blick ein faszinierter; seine Kamera bekundet ein Interesse am Kreisen im Milieu des Jahrmarkts und unter seinen Bewohnern.
Es dürfte kaum verwundern, dass Freaks (1932) eine besondere Bezugsquelle für Nightmare Alley darstellt. Auch deshalb kommt der so überkonstruierte und skurrile Film in seiner ersten Hälfte nur schleppend in Gang. Bis die Figurenkonstellationen etabliert sind, vergeht äußerst viel Zeit. Seinen Effekt entwickelt der Film erst mit dem Schauplatzwechsel und dem urbanen Großstadtmilieu, in dem del Toro dem Film Noir seine Reverenz erweist, und dem Auftritt der für das Funktionieren einer entsprechenden Geschichte unerlässlichen zwiespältigen, faszinierenden Frauengestalt mit Cate Blanchett in dieser Rolle. Die Wirkung des Films geht weniger von der Handlung aus als von der Ausstrahlung seiner Stars. Das Täuschende liegt nicht nur in den Dingen und Aussagen, sondern im menschlichen Verhalten selbst. Das Abenteuer des Helden, wenn man seinen Werdegang so nennen kann, führt ihn erst in die Niederungen der Gesellschaft, dann in die High Society der Dreißigerjahre. Del Toro inszeniert in Nightmare Alley bewusst im Geiste seiner vorherigen Filme. Er deutet den Zustand der Gesellschaft in der ein Stan agiert, als das eigentlich Entsetzliche. Etwas hat die Welt fest im Griff, das schlimmer ist als das Böse und das Verbrechen, das wir da beobachten, das allerdings nur Randnotiz bleibt: der Kriegsausbruch. Es ist del Toros besonderes Augenmerk, uns die Verbindungen von beiden Welten als Ausbeutungsmaschinerie, als Manipulation durch Illusionismus, nachvollziehen zu lassen.

Ohne es zu ahnen, befindet sich Stan immer noch auf der Verliererstraße. Das bedeutet auch, dass del Toro einen sehr verletzlichen Helden zeichnet, dem seine Härte und sein Zynismus nur als Schutzmechanismus dienen. Am Ende steht unser Held hilflos und erschüttert vor einem Desaster. Er hat verloren. Und so verhält sich Nightmare Alley zu Tod Brownings Freaks, wie The Shape of Water zu The Creature of the Black Lagoon – als eine Neulektüre, ein „korrigierender“ Blick auf die Missverstandenen, die verlorenen Gestalten.

Marc Trappendreher
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