Das Internationale Filmfestival Rotterdam kann noch so reduziert werden, wie die niederländischen sanitären Bestimmungen es gerade erfordern, doch auch in digitaler Ausführung schreien die ausgewählten Filme danach, auf die Zuschauer losgelassen zu werden. Oft, um maßlos zu überfordern, wie das beim IFFR nicht selten der Fall ist. Formale sowie narrative Überforderung und die immerwährende Suche nach neuen und spannenden Filmtalenten kommen im Focus-Programm um das Werk von Amanda Kramer zusammen. Die amerikanische Filmemacherin – sie selbst bezeichnet sich als image maker – ist zwar erst seit einigen Jahren im Filmgeschäft, das hielt das Rotterdamer IFFR aber nicht davon ab, die erste Kramer-Retrospektive anzusetzen: vier Kurz- und weitere vier Spielfilme, davon zwei Weltpremieren. Mit einer dieser beiden Weltpremieren, Please Baby Please, durfte Kramer die 51. Rotterdamer Filmfestspiele – ein zweites Mal unter künstlerischer Leitung Vanja Kaluđerčićs – eröffnen.
Please Baby Please ist einerseits die beste Einführung in Kramers Werk, andererseits nicht. Denn weil dieser Film Kramers bislang am höchsten budgetierter ist und mit einem verhältnismäßig bekannten Casting auflauert, kann er auf eine falsche Fährte führen. Andrea Riseborough hat man trotz ihres Hangs für das filmische Experiment – Mandy, The Death of Stalin oder Possessor – noch nicht so ausladend gesehen. Hinter dem Deckmantel des Pastiche verbirgt sich in Kramer die intellektuelle Neffin von John Waters. Der Fünfzigerjahre-Ästhetik bedient sie sich als rein visuellem Mittel, überhöht das Künstliche, um darauf eine anrüchige Reflexion über das Zusammenspiel von Gewalt und Sexualität zu formulieren – Amanda Kramer nannte es während ihres Big Talk-Gespräches „the attraction of danger“. Das vermischt Kramer mit Identitätspolitik, Geschlechterrollen und Geschlechterbildern, aus denen es für die Figuren auszubrechen gilt. Ja, Please Baby Please ist anstrengend barock und überbordend.
Eingesperrtsein und Ausbrechen sind Konstanten in Kramers Filmen. Ob im Eröffnungsfilm des Festivals oder in ihren ersten beiden Spielfilmen Paris Window und Ladyworld. In Letzterem gerät eine Pyjamaparty nach einem Erdbeben zum nackten Überlebenskampf, nachdem das Haus zugeschüttet wurde und die jugendliche Gesellschaft nicht mehr herauskommt. Ladyworld kann auch als feministischer Riff auf Goldings Lord of the Flies verstanden werden. „Performing feminity“, das Vorspielen von Feminität, war bei dem Film das erste Mal eine klare Ansage. Nicht nur die Tochter von oder Frau von zu sein, eine Schülerin und dergleichen. Sondern (junge) weibliche Körper zusammenstoßen lassen, je fieser und je mehr an der Grenze zum schlechten Geschmack, desto besser. Eine Ansage, die seither immer wieder wie ein Echo nachhallt. Das gilt auch für Give Me Pity, die zweite Weltpremiere beim IFFR. In diesem 80-Minüter imitiert und dekonstruiert Kramer die amerikanische Tradition der Samstagabend-TV-Specials, in denen sich Stars, Sternchen und Diven von ihrer persönlichen Seite zeigen können. Mit Musik, Sketchen, Frage-und-Antwort-Runden mit dem Publikum. Sophie von Haselberg spielt die selbstsichere Sissy St. Claire, die während ihrer Show jedoch zerbricht und die dunkelsten Seiten ihrer weiblichen Eitelkeit offenbart. Und was soll die monströse Erscheinung auf der Seitenbühne? Visuell vermengt ist eine Siebzigerjahre-Diskokugel mit Neon-Lichtern der Achtziger. Naturalistisch ist in Please Baby Please und Give Me Pity rein gar nichts. Beide Filme beschreiben ihre Welten als hypnagogische Traumwelten, in denen die zentralen Frauenfiguren die Perversionen, Voyeurismen und Objektivierungen an sich reißen, die das männliche Geschlecht und ihr Kino monopolisiert haben. „Demented versions of the past“, sagte Kramer dazu im Big Talk-Gespräch. David Lynch ist dabei sehr nahe.
Give Me Pity ist aber auch – Sophie von Haselberg ist in jedem Frame zu sehen – eine One-Woman-Show, quasi ein theatrales Monodrama. Theatralik und die sehr bewusste Verweigerung gegenüber naturalistischen Elementen ist auf allen Ebenen zu sehen: vom expressiv ausartenden Spiel über der wie Nutella dick aufgetragenen Schminke bis hin zu den gemalten Sets und Requisiten und den extrovertierten Kostümen. Es ist wenig verwunderlich, dass Amanda Kramer über einen Hintergrund in den darstellenden Künsten – Tanz, Theater und Musik – verfügt. Give Me Pity zurück zu Ladyworld und Paris Window, aber auch Please Baby Please sind theatrale Kammerspiele. Amanda Kramer versucht sich der dem Theater inhärent-gegebenen Einschränkungen zu bedienen, um wie ein naiv-entschlossener Punk dem formelhaften Kino, das bei ihr um die Ecke erfunden wurde – Kramer lebt in Los Angeles –, mit kleinen Dynamitladungen Risse zuzufügen. Für den definitiven Kollaps wird wohl das Formelkino selber verantwortlich sein, aber im transgressiven fake on top of fake findet Kramers Kino vielleicht ein Körnchen Wahrheit.