Der Staat allein kann es nicht richten

Sozialarbeit im Wandel

d'Lëtzebuerger Land vom 29.03.2019

Neben dem Gesetz über den „Domicile de secours“ von 1897, das den Sozialämtern in den Gemeinden die Aufgabe übertrug, die Armen und Bedürftigen nach Ermessen zu unterstützen, leisteten Ende des 19. Jahrhunderts vor allem katholische Vereinigungen soziale Arbeit. 1914 mit dem Ziel gegründet, Kriegsopfern Hilfe zu geben, verortet die Croix-Rouge nach Kriegsende ihren Wirkungsbereich schnell in den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, die da sind: Wohn- und Lebenshygiene, Gesundheit, Mutter und Kind und so weiter. 1932 bildet sich der Katholische Luxemburger Caritasverband.

Ende der 1970-er, Anfang der 1980-er Jahre ereignet sich eine qualitative Zäsur in der Sozialarbeit. Direkt und indirekt Betroffene schließen sich in Vereinigungen zusammen, um einem soziapolitischen Anliegen ganz pragmatisch mit konkreten Projekten zu begegnen (Foyer pour Femmes Battues, Actions prisons und so weiter). Ausgebildete SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und SoziologInnen werden von den neu gebildeten Trägervereinigungen eingestellt und bringen ihr Fachwissen in die konkrete Arbeit ein.

Die neuen Projekte sind keine Eintagsfliegen. Die Trägervereinigungen professionalisieren sich und diversifizieren im Laufe der Jahrzehnte ihre Dienste: im Arbeitsbereich (Aarbechtshellef, Co-Labor, Polygone ...), im Kinderbetreuungsbereich (The International Kindergarten, Foyer Chance-Égalité, Service Krank Kanner Doheem ...), im Behindertenbereich (Apemh, Ligue HMC, Cooperations, Kräizbierg, Fondation Autisme ...), im Gleichstellungsbereich (Femmes en Détresse, Foyer Sud, Initiativ Rëm schaffen, Initiativ Liewensufank ...). Die Dynamik der Vereinigungen stellt eine neue Qualität sich verändernder Sozialarbeit dar. Sie basiert auf den Erkenntnissen der Sozial-
wissenschaft zur Entwicklung des Individuums.

Was wäre die luxemburgische Sozialpolitik heute ohne diese gestalterische Kraft?

Der Staat erkennt Sozialarbeit durch das ASFT-Gesetz von 1998 an. Es legt den Rahmen fest, innerhalb dessen Vereinigungen Sozialarbeit leisten dürfen. Der Staat definiert die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit die notwendigen Gelder aus dem Staatsbudget fließen können.

Das Individuum im Zentrum der Sozialarbeit

Sozialarbeit agiert nicht im luftleeren Raum. Sie spiegelt den jeweiligen Stand der Sozialwissenschaften wider. Sie bewegt sich im politischen Raum und muss eine konfliktträchtige Beziehung zur Politik (Unabhängigkeit/Abhängigkeit) ausloten. Am besten gelingt das, wenn zu allen Momenten des Handelns immer die Bedürfnisse des Individuums im Zentrum stehen. Gepaart mit fachlichem Expertenwissen wird sozialgestalterische Aktion das, was sie eigentlich legitimiert: ein Instrument, um dem jeweiligen Individuum (ob Kind oder pflegebedürftige Person) zu einem bestmöglichen Leben in der Gesellschaft zu verhelfen.

Dank der Sozialwissenschaften und der sozialgestalterischen Aktion hat sich auch in Luxemburg im Laufe der letzten Jahrzehnte in verschiedenen Bereichen echtes Expertenwissen akkumuliert. Ob in der Begleitung von Menschen in einer beruflichen Umbruchphase (etwa durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit durch Burnout) oder von Menschen mit einer Behinderung – die Projekte der Vereinigungen waren und sind nötig, damit Luxemburg seinen Aufgaben national, aber auch international gewachsen ist. Der Staat allein kann es nicht richten. Auf Augenhöhe mit den Vereinigungen, und in der Erkenntnis, dass beide Partner (Staat und Vereinigungen) ihre sehr spezifischen Missionen haben, kann der Sozialstaat ein aufgeklärter, zielorientierter, menschenzentrierter Sozialstaat sein.

Die Evaluation und die eventuelle Neuausrichtung des ASFT-Gesetzes wird zeigen, ob die Dialogkultur zwischen Staat und Vereinigungen mittlerweile soweit gediehen ist, dass es gemeinsam gelang, die notwendigen demokratisch legitimierten und unbürokratischen Mechanismen zu schaffen, die eine dynamische und zielorientierte Sozialarbeit garantieren.

Dabei wird es auch, aber nicht nur, um pekuniäre Fragen gehen. Schon heute, und noch stärker in den nächsten Jahren droht ein Engpass in der MitarbeiterInnenrekrutierung. Es gilt demnach, Ausbildung und Umschulung in sozialen Berufen zu fördern. Ein weites Feld, das nur ressortübergreifend gelöst werden kann.

Die Vereinigungen im sozialen Bereich werden von Ehrenamtlichen geführt. Das Ehrenamt 2019 basiert auf so genannten Managementkompetenzen in vielen Bereichen: Finanzen, Recht, Mitarbeiterführung, Planung, Monitoring, Controlling, relevantes Fachwissen, Verhandlungsführung, Lobbying und so fort. Es gilt, das Ehrenamt so zu unterstützen, dass auch weiterhin Menschen bereit sind, sich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.

Transparenz und Information

2018 wurde am Diamanten der persönlichen Rechte des Einzelnen ein weiterer wesentlicher Schliff ausgeführt. Das europäische Règlement général de la Protection des Données (RGPD) bestimmt die Regeln im Umgang mit den persönlichen Daten des Individuums.

Im Sozialbereich bindet das Berufsgeheimnis die MitarbeiterInnen und setzt das Einverständnis des Individuums voraus, um Informationen „angemessen“ weiter zu reichen. Man muss allerdings einräumen, dass die Verpflichtung, persönliche Daten nur im Einverständnis mir der betroffenen Person zu benutzen, nicht immer mit der nötigen Sorgfalt behandelt wurde. Lasche Umgangsformen mit persönlichen Daten potenzierten sich mit der Benutzung von elektronischen Medien. Eine E-Mail, einmal abgeschickt, kann ohne Wissen der betroffenen Person delikate Informationen (persönlicher Lebensstil, gesundheitliche Merkmale) enthalten und eine Vielzahl von Menschen erreichen.

Im Sinne des Schutzes der Privatsphäre und der persönlichen Rechte stellt das RGPD einen Fortschritt dar. Seit 2018 müssen alle Institutio-
nen, Betriebe, Organisationen und eben auch Vereinigungen aus dem sozialen Bereich ihre Prozeduren neu aufrollen. Das Recht des Einzelnen auf die Wahrung seiner Privatsphäre ist ein Muss. Außer einigen klar geregelten Ausnahmen ist Schluderigkeit im Umgang mit persönlichen Daten ein No-Go.

Um sicherzustellen, dass das RGPD angewandt wird, sind Einsicht und Kontrolle nötig. Das bedeutet, dass dem Einzelnen eine Kopie von den Dokumenten in den verschiedenen Bereichen, die ihn/sie betreffen, zusteht. Und dies in einer Sprache, die verständlich ist. Beamtenjargon, adé. Leichte Sprache, wenn möglich. Das Gesetz vom 14. September 2018 geht in die gleiche Richtung: Privatpersonen haben ein Recht auf Zugang zu Dokumenten, sofern es einen Verwaltungsvorgang betrifft.

Für eine humanistische Sozialarbeit

Abraham Maslow prägte vor einem Jahrhundert die relativ neue psychologische Wissenschaft durch die Entwicklung der „Humanistischen Psychologie“. In seinem Fokus standen nicht die Defizite des Einzelnen und der Determinismus der Psychoanalyse, sondern die Potenziale des Einzelnen. Maslow versuchte herauszufinden, welche Faktoren und gesellschaftlichen Gegebenheiten nötig sind, damit die (generellen und spezifischen) Bedürfnisse des Individuums eine angepasste Antwort erhalten. Maslows Fragestellung scheint mir immer noch aktuell. Seine „Pyramide der Bedürfnisse“ bleibt weiterhin eine Orientierungshilfe und benennt die einzelnen Stufen der Bedürfnisse des Individuums, die erfüllt werden müssen, damit der Mensch Mensch wird.

Das ist Objekt und Zielsetzung von Sozialarbeit. Im engen und im weiten Sinne.

Carl Rogers, ebenfalls Psychologe, entwickelte eines der wichtigsten und wesentlichsten Instrumente des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin: das Einzelgespräch (entretien individuel). Was banal klingt, ist eine professionelle Technik, die erlernt werden muss. Sie setzt eine kritische Auseinandersetzung mit persönlichen Wertvorstellungen und deren „Neutralisierung“ in der Einschätzung des Klienten voraus; eine Wertschätzung des Gegenübers in seiner „Einzigartigkeit“, das Ergründen der spezifischen (Rest-)Kompetenzen des Individuums im Hinblick auf deren Mobilisierung und auf größtmögliche Autonomisierung des Individuums.

Viele nationale Vereinigungen arbeiten in Luxemburg heute im Geiste der Humanistischen Psychologie und der emanzipatorischen Sozial-
arbeit. Es gilt, in den nächsten Jahren qualitativ hochwertige Sozialarbeit und neue notwendige Projekte zu unterstützen:

– im Dialog mit der jeweiligen betroffenen Person,
– im formalisierten Austausch zwischen Regierung, Vereinigungen und implizierten Akteuren,
– im Respekt der persönlichen Rechte des Individuums,
– im Sinne der größtmöglichen Autonomisierung des Individuums,
– auf rechtsstaatlicher Basis und
– durch die Einbettung von sozialwissenschaftlichem Fachwissen.

Ginette Jones ist Assistante sociale und ehrenamtlich tätig.

Ginette Jones
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