Die Grenze, die die Vereinigten Staaten von Mexiko trennt, gilt nicht erst seit der Präsidentschaft Donald Trumps als heißes Pflaster. Der neue Film von Philippe van Leeuw versteht sich aber als ein Zeitdokument einer Ära, die nur auf dem Papier überstanden ist. Auch ohne den MAGA-Mann im Weissen Haus, der seine politische Karriere unter anderem mit dem Satz Build the Wall rechtfertigte, scheint die Lage an der Grenze unverändert. Chauvinismus, Rassismus und Hass trump(f)t jeglichen Sinn für Gerechtigkeit und Justiz. So die ernüchternde Bilanz von Van Leeuws Spielfilm.
Eine Hauptprotagonistin des Film ist Vicky Krieps‘ Figur Jessica Cromley. Sie arbeitet beim amerikanischen Grenzschutz und sieht es fast schon als fanatisch religiöse Berufung, jegliche potenziellen Drogendealer und illegale Immigranten vom US-Boden fernzuhalten. Mit potenziell ist jeder gemeint, der sich der Grenze nähert. Sobald Cromley etwas in den Blick fällt, was nicht weiss und durch und durch American ist, sieht die Frau in Uniform rot. Regisseur Van Leeuw stellt ihr den indigenen Jose Edwards dramaturgisch gegenüber. Edwards – genau wie Mike Wilson, der Mann hinter der Rolle – gehört der Tohono-O‘odham-Nation an und bewegt sich mit Familienmitgliedern auf beiden Seite der Grenze. Regelmäßig hilft er Migranten auf ihrer Odyssee aus Südamerika auf den letzten Kilometern über die Grenze ins gelobte Land, die Vereinigten Staaten. Cromley und Wilson, diese beiden gegensätzlichen Figuren, werden aufeinandertreffen während es zu einem tragischen Zwischenfall kommt.
Nach zwei Spielfilmen, die sich jeweils in Ruanda und Syrien abgespielt haben, verschlug es den Belgier also in die USA. Und wieder einmal war der geografische Rahmen ausschlaggebend für die Erzählung. Während Une famille syrienne ein Kammerspiel war – eine vom syrischen Krieg zerbombte Variation auf Hitchcocks Rear Window, die sich in einer Wohnung inmitten des Kriegsgebietes abgespielt hatte –, öffnet van Leeuw seinen Handlungsort, mauert ihn aber gleich mehrmals wieder. Einerseits ist da die titelgebende Mauer – die schon lange vor Trump stand –, anderseits ist das Kammerspiel in The Wall eine psychologische Analyse, welches versucht, die Handlungen der dort Anwesenden zu verstehen. Die Rolle des von Mike Wilson gespielten Native American ist in dieser Hinsicht die spannendste Figur im ganzen Film. Ihn in der Besetzung wiederzufinden erinnert an die Methodik hinter Chloé Zhaos Filmen (Nomadland, The Rider, Songs My Brother Taught Me). Mit dem Casting von LaiendarstellerInnen fand sie eine Richtigkeit, die ihre moderne Americana einzigartig machte. Der Laie Mike Wilson schenkt van Leeuws Film eine Ruhe und authentische Autorität, die der oftmals geschrieenen Dramatik den notwendigen Kontrapunkt setzt. Seine Figur wird jedoch erst spät im Film eingeführt. Zu spät vielleicht.
Fast die erste Hälfte des Neunzigminüters dreht sich um Vicky Krieps‘ Figur. Und wo Mike Wilson mit dem Bonus des tatsächlich Erfahrenen auftreten kann, muss die gebürtige Luxemburgerin die rassistische US-Amerikanerin aus dem Bundesstaat Nevada erstmal konstruieren. Dass bei Jessica Cromley die herrische und trigger-happy Attitüde nur Fassade ist, trichtert der Film von Anfang an seinem Publikum ein. Problematische Familienverhältnisse und die damit einhergehenden Verhaltensstörungen, die die Figur immer weiter von ihrem Umfeld abtrennt, werden durchgehend thematisiert. Zwischen Blaupause und Karikatur der border patrol Jessica Cromley bleibt dabei nur noch ein schmaler Grad. Davon abgesehen, dass man Krieps ihre Rolle nicht ganz abkaufen will, wirkt diese vor allem nicht wie eine durch und durch gestaltete. Frances McDormand war inmitten ihrer Mitstreiterinnen kaum zu unterscheiden. Bei The Wall ist dem nicht so. Diktion, Körperhaltung und die Waffe an der Hüfte – Vicky Krieps wirkt selbst wie ein illegal Immigrant im Film, dem es schwer fällt, sich zu integrieren. Es scheint fast, als ob sie nicht in den Rahmen von Van Leeuws dokumentarischer Fiktion passen würde.
Der von Les Films Fauves koproduzierte The Wall kommt nicht mit neuen Erkenntnissen über die Zustände an der südlichen Grenze der Vereinigten Staaten zu Mexiko an, sondern erzählt einmal mehr von einem fast gesetzlosen Streifen Land, auf dem gehandelt wird wie im Wilden Westen. Aber auch hier liefert der von Mike Wilson verkörperte Jose Edwards den Teil, den The Wall interessant macht. Mit ihm als Teil der Tohono-O‘odham und der Tatsache, dass er sich trotz aller Hindernisse und jeglicher Bemühungen seitens der Amerikaner, die Grenze zu sichern, hin und herbewegt, wird die vom Menschen gezeichnete Grenze kurzerhand aufgelöst. Die Tohono-O‘odham erkennen diese Grenze nämlich gar nicht an. Würde sich The Wall weniger als Zeitdokument der Straffreiheitlichkeit des systemischen amerikanischen Rassismus und mehr als philosophische Abhandlung über menschliche Konstruktionen verstehen, dann wäre der Film mehr als nur die Summe seiner vielen Teile.