Rolf Tarrach habe das Buch La science: L’épreuve de Dieu? von François Euvé gelesen und „nicht wirklich erfahren“, ob der Autor an „Wunder glaubt oder nicht“. Der ehemalige Rektor der Universität Luxemburg und Quantenphysiker könne Wunder nur anerkennen, wenn sie experimentell nachgewiesen werden – „wenn sie reproduzierbar sind und sich messen lassen“. Wenn Wunder kein Gegenstand wissenschaftlicher Messmethoden sein können, existierten sie für ihn nicht, erläutert Tarrach. Der Theologe und Physiker François Euvé meint daraufhin, „es gibt punktuell Phänomene, die sich einer eindeutigen Erklärung entziehen, spontane Heilungen beispielsweise“. Aber die Frage nach dem experimentellen Nachweis sei nur eine Dimension dieser Phänomene, eine andere würde ihn mehr interessieren, die der Interpretation, der hermeneutischen Entschlüsselung der Welt. Hierfür bedürfe es eines Subjektes, das die Wirklichkeit phänomenologisch erfahre, ein Aspekt, der nicht in das Design von physikalisch-experimentellen Studien passt. Und außerdem: Die Naturwissenschaften beruhen auf Reproduzierbarkeit, aber „le miracle est unique“, so Euvé. Auf dem Podium sitzen, neben dem Autor und Rolf Tarrach, der Theologe und Leiter der Luxemburg School of Religion and Society (LSRS), Jean Ehret, der die Diskussionsrunde am 19. Juni moderierte.
Der Gesprächsabend wurde vom Institut Pierre Werner (IPW) unter dem Titel „Pour un nouveau dialogue entre science moderne et foi chrétienne“ organisiert. Alle 70 Stühle waren besetzt; in der ersten Reihe saß Henri Grethen (DP), Präsident des IPW. Charles Margue (déi Gréng) saß hinter ihm mit einem Notizblock in der Hand. Die Veranstaltung war als Antwort auf Dieu, la science, les preuves konzipiert, ein Buch, das der Ingenieur und Unternehmer Michel-Yves Bolloré (Bruder des rechtsextremen Medienmoguls Vincent Bolloré) mit dem studierten Theologen und Unternehmer Olivier Bonnassies herausgebracht hat. Darin verteidigen Bolloré und Bonnassies in Anlehnung an die physikalische Urknall-Theorie die These, ein Schöpfergott habe das Universum erschaffen.
Voraus ging der Podiumsdiskussion ein Vortrag von Euvé. Darin erläuterte der Jesuit, dass er die Theologie nicht als Erklärungsmodell der physikalischen Welt betrachte, wie Bolloré und Bonnassies es tun. Dennoch seien die Naturwissenschaften und die Theologie nicht gänzlich voneinander abgegrenzte Bereiche, denn im Versuch, beide epistemische Systeme zu bestimmen, tritt ihre Differenz zu Tage: Während die Naturwissenschaften nach dem „Wie (funktioniert das)“ fragten, fragten Weltdeutungsangebote nach dem „Warum“. Während bei den Naturwissenschaften Messgeräte und Nützlichkeitsbewertungen im Vordergrund stünden, stünden bei Gegenständen ästhetischer Erfahrung die Menschwerdung des Menschen im Vordergrund. Anders ausgedrückt: Das Wirken Gottes sei kein Objekt da draußen in der Welt. Die Religion solle heute der Frage nachgehen, welche Art des in der Welt-Seins und Agierens die Menschen menschlicher machen. Nun könnte man fragen, weshalb er diese Leistung im Christentum realisiert sieht. Euvé antwortet darauf, weil der Gott der Christen „keine Entität“ sei, von der man „abhängig“ sei. Durch das „Mach dir kein Bild von Gott“, sei der Mensch zur Freiheit aufgefordert, so seine Interpretation, denn das Neue Testament fordere auf, sich von Götzen zu lösen, denen man sich unterwerfe. Ehret und Euvé brachten jedoch auch religionskritische Töne hervor: Religionen können gleichermaßen Ausgrenzungs- und Destruktionspotenzial hervorbringen.
Deshalb will Jean Ehret Religionen in der Mitte der Gesellschaft diskutiert wissen, bestenfalls zudem an Universitäten, an denen sie durch andere Fächer sozusagen domestiziert werden – wo aber zugleich die Theologie den Naturwissenschaften sagen könne, sie solle nicht in Selbstgefälligkeit verfallen. Wie bereits vor einem Jahr (d’Land, 28.4.2023) verwarf Rolf Tarrach diese Idee: Die Theologie besitze keine universal anwendbare Methode, zwar besitze die Philosophie diese auch nicht, „aber die Philosophie lehrt uns, zu argumentieren und logisch zu denken“. Wie in Frankreich und Spanien gibt es keine theologischen Lehreinheiten an der Universität Luxemburg. Die LSRS ist ein außerakademisches Institut, das hierzulande etwas isoliert an der Busbach-Straße recherchiert, publiziert und archiviert. Womöglich wird es deshalb weiterhin mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie dem IPW Konferenzen organisieren.
Das Interesse Mitte Juni war da; aus dem Publikum kamen Fragen über das Verhältnis zwischen Politik, Religion und Wissenschaft. Im Anschluss an das Podiumsgespräch waren in den Gassen und im Aufzug vom Grund in die Oberstadt unterschiedliche Kommentare zu hören: Während einige meinten, es sei ein inspirierender Abend gewesen, zeigten sich andere enttäuscht. Erst gegen Ende seien Konfliktlinien deutlich geworden, etwa als Rolf Tarrach sagte: „Wir können die Zeit nicht definieren. Physiker sagen zwar, wie sie die Zeit messen, aber die Zeit zu messen ist nicht das gleiche, wie sie zu definieren. Man kann die Zeit nicht definieren, denn um ein Konzept zu definieren, muss man von einem Konzept unabhängige Konzepte besitzen, um es zu definieren. Das ist unser Problem mit der Zeit. Und das ist übrigens mein großes Problem mit Menschen, die sagen, Gott sei jenseits von Zeit und Raum. Man weiß zwar nicht, was die Zeit ist, aber man will wissen, dass Gott jenseits der Zeit ist.“