Kardinal Hollerich zeigt sich auf europäischem Parkett reformwillig. In Luxemburg stärkt er derweil Rechtskonservative. Die Spannungen zwischen Laien und Klerus steigen

Der Buddha-Bischof

d'Lëtzebuerger Land vom 16.12.2022

Die Kirche ist dabei sich neu zu erfinden. Von Oktober 2021 bis Juli 2022 fand eine Beratung zur künftigen Entwicklung der Kirche statt, an der sich 4 500 Einwohner/innen Luxemburgs beteiligten. „Die hiesigen Kirchenmitglieder haben sich für Gastfreundschaft ausgesprochen und für eine Kirche, die auf die Herausforderungen der Welt eingeht“, sagt Jean-Louis Zeien, der zusammen mit Josiane Mirkes das Synodalteam der Diözese leitete. Papst Franziskus hat einen weltweiten synodalen Prozess eingeläutet, um zu erörtern, wie sich die römisch-katholische Kirche verändern könnte. Ende Oktober wurde eine erste Etappe abgeschlossen: Nachdem sich die lokalen Diözesen trafen und Empfehlungen formulierten, mündeten diese in einem Arbeitsdokument. Die Bischofssynode 2023 soll auf den Empfehlungen des nun vorliegenden Dokuments fußen. Kardinal Hollerich wurde durch den Papst zum Generalsekretär der Bischofssynode ernannt, womit dem Luxemburger eine zentrale Rolle bei der Moderation und inhaltlichen Arbeit der Synode zukommt.

„Für Luxemburg haben wir festgehalten, dass wir eine ehemalige Volkskirche sind, die auf dem Weg ist, eine Kirche im Volk zu werden. Das heißt, wir müssen uns als Gemeinschaft besser vernetzen und wollen eine stärkere Einbeziehung der Laien, auch was liturgische Handlungen betrifft“, erläutert Jean-Louis Zeien. Auf internationaler Ebene zeichne sich zudem ab, dass Katholiken für das Diakonat der Frau aufgeschlossen sind, und ein kleiner Anteil spreche sich für das Priestertum der Frau aus, berichtete der Generalsekretär Jean-Claude Hollerich während eines Vortrags an der Theologischen Fakultät Fulda. Dass die Ehrenamtlichen durch den zahlenmäßigen Rückgang am Rande der Erschöpfung stehen, hält das Arbeitsdokument ebenfalls fest. „Auf der einen Seite wird die zwischen Klerus und Laien wahrgenommene Distanz kritisiert, auf der anderen Seite werden Priester mancherorts sogar als Hindernis für eine fruchtbare Gemeinschaft erlebt“, berichtet die Österreichische Diözese. Neben Selbstkritik sparen der Generalsekretär Hollerich und sein Team in ihrem Ende Oktober veröffentlichten Bericht die misstrauischen Zuschriften gegenüber den Reformwilligen nicht aus: „Ich traue der Synode nicht. Ich glaube, sie ist einberufen worden, um die Lehren Christi noch weiter zu verändern und seiner Kirche weitere Wunden zuzufügen“, moniert eine Person aus England im Dokument.

Auch in Luxemburg herrschen Spannungen zwischen Laien und dem Klerus. Häufig kämen gute Vorschläge von Ehrenamtlichen, die in den Kirchengemeinden aktiv sind; sie könnten die Bedürfnisse der Kirchengänger einschätzen, wüssten wie man Jugendliche abholt sowie die spirituelle Praxis lebendig halte und welche administrativen Aufgaben besser bewältigt werden müssten. Aber die kirchliche Autorität würde die Laien im Stich lassen, der Klerus verspreche Anregungen aufzunehmen, blockiere aber letzten Endes Erneuerungen, berichten Enttäuschte. Jean-Louis Zeien sieht das anders: „Die Versammlungen waren partizipativ, wir konnten unabhängig und ohne hierarchischen Druck arbeiten“. Der Austausch in der Kirche sei konstruktiv und mit der Synode habe ein beschleunigter Demokratisierungsprozess stattgefunden. Insgesamt sei die derzeitige Kirche mit Papst Franziskus und seiner zuletzt publizierten Enzyklika Fratelli Tutti über die „Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ auf dem richtigen Weg. Weitere Personen berichten Jean-Claude Hollerich sei ein gebildeter Jesuit mit Seelsorger- Erfahrung, der anderen unvoreingenommen zuhören könne. Gegenstimmen wiederum merken an, der Erzbischof wolle stets das letzte Wort haben und könne nicht auf Augenhöhe mit Laien diskutieren.

Seit März 2018 ist Jean-Claude Hollerich zudem Vorsitzender der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft. Im kommendem März wird er dieses Amt allerdings niederlegen. Eine der Aufgaben dieser Kommission ist es, auf Grundlage der christlichen Soziallehre Impulse für ein vereintes Europa zu geben. Um Bilanz zu ziehen, traf er sich am Montag mit Papst Franziskus und gab anschließend dem Domradio ein Interview. Was genau die Bischofskonferenz in Brüssel erreichte und was für Appelle sie an EU-Politiker richtete, wird nur gestreift. Hollerich berichtet etwas schwammig: „Wenn man auf die ganzen fünf Jahre zurückschaut, denke ich etwa an Frau Mogherini und dass wir gefragt worden sind, Punkte für die Achtung der Menschenrechte in der Außenpolitik auszuarbeiten, insbesondere zur Religionsfreiheit. Und da konnten wir uns sehr positiv einbringen.” Es folgen ein paar Aussagen gegen Korruption und Nationalismus, ohne sie jedoch an konkrete Forderungen zu binden. Der Sprachwissenschaftler, der viel Zeit im Elfenbeinturm an der Sophia Universität in Tokio verbrachte, hat nun die Sprache der politischen Diplomatie gelernt. Ob er diese Sprache gerne spricht, ist unklar. Ein Journalisten-Kollege aus Brüssel meint, Hollerich meide die Presse, versuche, dass interne Konflikte dieses EU-Organs nicht öffentlich werden, und halte sich selbst mit einer starken Position zum Beitrag der katholischen Kirche zum Zusammenhalt Europas zurück, entweder weil er keine hat oder um Spannungen nicht weiter anzustacheln. Die Diskussionen zwischen den 27 Mitgliedstaaten verlaufen selten einstimmig, die liberalen Ansichten der mitteleuropäischen Bischöfe seien nicht immer vereinbar mit jenen aus Polen und Ungarn. Hollerich gehe diplomatisch und zurückhaltend vor. Dabei sei das Image der katholischen Kirche angekratzt und sie könne gerade jetzt Signale einer europäischen und globalen Solidarität setzen.

Dass er gelegentlich schwer einzuordnen ist – damit kokettiert Hollerich mittlerweile selber. In dem Gesprächsband Was auf dem Spiel steht (2022) behauptet er: „Die einen denken: Er ist erzkonservativ. Die andern meinen, ich sei schrecklich liberal.“ Aber er sei „weder das eine noch das andere“. Widersprüchliche Entscheidungen sind immer wieder auszumachen. So beklagt er einerseits die rechtspopulistische Vereinnahmung des Christentums für eine antidemokratische und fremdenfeindliche Politik, wie sie auch von ADR-Politikern Tom Weidig und Fred Keup betrieben wird, die beide keine Kirchgänger sind, das Christentum aber als abgrenzendes Kulturerbe beschwören. Andererseits gibt er den Europapfadfindern in Luxemburg ein Zuhause, in denen Strömungen mit identitärem und extrem-rechten Gedankengut anzutreffen sind. Der Erzbischof verteidigt sich und behauptet, unter den Eltern seien zwar „viele sehr konservative Franzosen“, wer sich allerdings Zeit nehme für die Jugendlichen, der stelle fest, „die sind nicht immer so, wie ihre Eltern sich das vielleicht denken“.

Befasst man sich mit dem Lebensweg und den Interessen des Kardinals, fällt auf, dass er nicht plante, politische Ämter zu bekleiden: Eigentlich hatte er kurz vor seiner Ernennung zum Bischof im Jahr 2011 durch Benedikt den XVI vor, seine Doktorarbeit über die Jesuiten im Thailand des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Häufig betont er zudem sein Interesse an unterschiedlichen Sprachen, an den Area Studies, an der vergleichenden Sakramentaltheologie. An der Sophia Universität Tokio hat er Arbeiten von Studierenden über Mangas betreut, hat sich als junger Mann mit Theaterstücken von Bertolt Brecht und den Werken von Anna Seghers beschäftigt. In Japan praktizierte er zen-buddhistische Meditationen und am Institut Grand-Ducal referierte er unter anderem über Orientalismus, Karikierungen von Muslimen und die mangelnde Bereitschaft, andere Kulturen und Religionen verstehen zu wollen. Erst nachdem 2013 die Dreierkoalition die Trennung von Kirche und Staat verkündete, beginnt er sich vermehrt zu institutionellen Reformen zu äußern. Er nehme die Entscheidungen der Regierung hin. Diese schuf den Religionsunterricht ab, ebenso die staatliche Besoldung von neu eingestellten Priestern und die Verantwortung von kirchlichen Gebäuden wurde vom Staat entkoppelt. Hollerich verkauft den Einschnitt als Chance: „Langfristig müssen wir als Kirche erkennen, dass die Regierung uns gezwungen hat, uns realistisch mit unserer Zukunft zu beschäftigen“. Mit Premier Xavier Bettel (DP) verstehe er sich inzwischen gut, behauptet Kardinal Hollerich in seinem unlängst erschienen Gesprächsband. Er habe den Premier zusammen mit seinem Ehepartner zum Papst begleitet. „Im Vatikan hat das für etwas Aufregung gesorgt, aber der Papst war amüsiert“.

Das im Oktober veröffentlichte Arbeitsdokument, das Kardinal Hollerich als Generalsekretär der Synode mitredigierte, hält die in den Ortskirchen unterschiedlichen Haltungen gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen, Menschen, die in einer polygamen Ehe leben und LGBTQ-Personen fest. Manche Ortskirchen suchen einen versöhnlichen Dialog. Die südafrikanische Bischofskonferenz aber beispielsweise verlautbart, sie könne keine Position gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen formulieren, da ihre Kirchenmitglieder unterschiedliche Standpunkte äußerten. Der Erzbischof ist in dem Punkt eindeutiger: „Kardinal Hollerich weiß, dass es unter seinen Priestern Schwule gibt“, titelte das Wort zu Beginn des Jahres, „und die wissen, dass sie in der Kirche ein Zuhause haben“, so die ehemalige Bistumszeitung weiter. Dass im Katholizismus vermutlich viele homosexuelle Priester anzutreffen sind, hänge mit der Vorstellung zusammen, der Priester sei mit Gott oder – in der katholischen Sprache - Jesus, verheiratet, analysiert der Religionswissenschaftler Jeffrey Kripal in seinem Buch Secret Body (2017). Römisch-katholische Institutionen böten homosexuellen Männern, in Gesellschaften in denen Homosexualität strafbar war und ist, ihre Sexualität auf kreative Weise in ein produktives geistliches oder intellektuelles Leben zu sublimieren. Kripal erwähnt gegenüber der Los Angeles Review of Books, er impliziere kein wertendes Urteil: „Ganz im Gegenteil, ich denke, dass schwule Männer oft spirituell begabter sind als heterosexuelle Männer“. Jesus als homosexuell zu bezeichnen sei anachronistisch, aber er war „anything but straight“, huldigte keinem heterosexuellen Familienmodell und forderte seine Jünger auf, ihre Familien zu verlassen. Kardinal Hollerich seinerseits argumentiert, die derzeitige konservative Sexualmoral der Kirche entspringe partiell der bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts und sei nicht biblisch begründet. An älteren Kirchenbildern erkenne man beispielsweise Schwangere bei der Heirat, woraus sich die Akzeptanz von Geschlechtsverkehr vor der Ehe schlussfolgern lasse. Die kirchliche Lehre, die Homosexualität als Sünde betrachtet, sei aus soziologischen und wissenschaftlichen Gründen nicht mehr zeitgemäß. Zudem müsse die Kirche eine Fehlinterpretation der Bibel bezüglich Homosexualität einräumen: Im Neuen Testament „ist nur von homosexuellen Handlungen die Rede, was teilweise heidnische Kulthandlungen waren.“ Über bestimmte Sexualpraktiken urteile das Neue Testament, nicht über Homosexuelle, so Hollerich.

Der Erzbischof äußert sich darüber hinaus in unterschiedlichen Interviews zu den sich in der Kirche ereignenden Missbrauchsfälle. Er führt diese zuvorderst auf strukturelle Probleme sowie das Fehlen eines offenen Dialogs über Sexualität zurück, und zeigt sich erschüttert über die Vorfälle: „Wenn Kinder auf den Priester oder den Bischof als denjenigen schauen, der für Gott spricht: Dann ist das fast das Schlimmste, was man machen kann.“ Obwohl ihm strukturelle Schwächen katholischer Institutionen bekannt sind, hat er Mönchen der Gemeinschaft Verbum Spei in seiner Diözese aufgenommen. Problematisch ist insbesondere deren Lehre der “Freundschaftsliebe”, ein an Thomas von Aquin angelehnter Begriff, der es Anhängern ermögliche, Missbrauch innergemeinschaftlich zu rechtfertigen, wie Marie-Laure Rolland auf Reporter.lu schreibt. Die Gemeinschaft wurde von dem dominikanischen Priester Marie-Dominique Philippe gegründet, gegen den Zeuginnen wegen sexuellen Missbrauchs aussagten. Es soll sich um mindestens 15 Betroffene, zumeist Nonnen, handeln. Der Weihbischof Leo Wagener versicherte gegenüber Reporter, die Mönche von Verbum Spei seien verpflichtet, sich an die Regeln der Diözese zur Verhinderung von Missbrauch zu halten. Vergangenes Jahr wurde allerdings ein Kind aus einer Affäre zwischen einem Seelsorger der Universität und einer Studentin geboren. Seitdem ging die Spur dieses Priesters verloren; die Frau hat sich zu dem Vorfall nicht geäußert, offen bleibt, wie einvernehmlich das Verhältnis war. Erzbischof Hollerich willigte dem Seelsorgedienst dieser seit 2016 tätigen Mönche an der Uni ein. Die hiesige Kirche könnte demnach ebenfalls den Hilfreruf der australischen Kirchenmitglieder ernst nehmen, der dieses Jahr während der Synode angesichts sexuellen, finanziellen und spirituellen Missbrauchs verlautbart wurde: „Es wird auf den dringenden Bedarf hingewiesen, den Schrecken und das Leid, die verursacht wurden, anzuerkennen und die Bemühungen zu verstärken, um vulnerable Menschen zu schützen“. Kardinal Hollerich zieht allerdings die Überprüfung des Pflichtzölibats für Priester in Betracht. Die Aufhebung des Zölibats könne sexuellem Missbrauch entgegenwirken. Und das Nachwuchsproblem lösen: „Ich denke, wir müssen in diese Richtung gehen, sonst haben wir bald keine Priester mehr“.

Während Kardinal Hollerich im deutschsprachigen Raum den Liberalen gab, flammte diese Woche allerdings erneut eine Kontroverse rund um eine umstrittene Gruppierung auf: Der Erzbischof will der Priestergemeinschaft Saint-Martin dazu verhelfen, sich in Luxemburg niederzulassen, wie die Reporter-Journalistin Véronique Poujol recherchierte. Welche Verbindung genau er zu der offen homophoben Gemeinschaft unterhält, steht noch aus, auf Nachfrage antwortete die Sekretärin, der Kardinal sei auf Dienstreise. 2015 empfang zudem Großherzog Henri eine Delegation von 80 ihrer Vertreter. Die Priestergemeinschaft Saint Martin steht Politikern der extremen Rechten wie Eric Zemmour oder Marine Le Pen nahe, und einer ihrer Bischöfe, Marc Aillet, bewundert Wladimir Putin. Dem Vernehmen nach schütteln zivilgesellschaftlich engagierte Laien den Kopf, und fragen sich, ob Kardinal Hollerich tatsächlich die Zukunft der Kirche in rechtskonservativen Gruppierungen sieht.

Stéphanie Majerus
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