Sie habe noch nie eine Fußreflexzonenmassage erhalten, „ich bin hier um sie auszutesten“, sagt die junge Angestellte, die im Massagesessel platz nimmt. Es ist gerade Mittagspause, auf dem Bahnhofsvorplatz vor dem Fenster ist viel los, aber Sandrine Fontaine legt eine entspannende Musik auf und schottet die Hektik ab; sie beginnt die Fußsohle und Ferse zu massieren. „Ich bin gestresster Natur und seit meiner Covid-Erkrankung fühle ich mich etwas schlapp“, erläutert die Kundin. Nach einem kurzen Gespräch schlummert sie vor sich hin, während die Masseurin beginnt, bestimmte Punkte am Fuß zu drücken. Die Reflexzonenmassage beruht auf der Vorstellung, dass bestimmte Zonen an den Füßen und Händen Körperorgane spiegeln. Beispielsweise bilde der Bereich unter dem linken großen Zeh die entsprechende Hirnhälfte ab, die seitliche Fußinnenseite stehe in Wechselbeziehung zur Wirbelsäule und in der Mitte der Fußsohle befände sich die Zone, die mit der Niere verbunden sei. Machen sich Schmerzen bei leichtem Druck an den entsprechenden Stellen bemerkbar, soll das auf eine Beeinträchtigung des entsprechenden Organs hinweisen. Umgekehrt sollen sich beim Massieren der Zonen Blockaden lösen und die Selbstheilungskräfte anreget werden.
Nach der Behandlung fühlt sich die Kundin entspannt, die Druckpunktmassage habe ihr gut getan und sie würde sie weiterempfehlen. Neugierig wurde sie, weil Freundinnen ihr von der Reflexzonenmassage erzählt hätten. „Die meisten, die zu mir kommen, sind nicht mit den Prinzipien der Reflexzonen vertraut“, erläutert Sandrine Fontaine. Vor elf Jahren hat sie ihren Job als Kauffrau aufgegeben, um als Fußpflegerin und Reflexzonenmasseurin tätig zu werden. Dreiviertel ihrer Kunden sind Frauen und sie wünschen sich Stresslinderung, weniger Verdauungs- und Einschlafprobleme.
Meistens sind Reflexzonenmasseur/innen gleichzeitig auf ähnlichen Terrains unterwegs, so wie Zenergy, eine Anbieterin, die nördlich der Hauptstadt ein Zentrum betreibt. Neben der Druckpunktmassage wendet sie zudem EFT-Stimulationen an; EFT steht für Emotional Freedom Techniques und bezeichnet eine Methode zur Linderung von Stress durch das Abklopfen von Akupressurpunkten. Wissenschaftlich nachgewiesen ist die dahinterstehende Theorie sowie auch für die Reflexzonen nicht. Auf ihrem Instagram-Account spricht Zenergy von Techniken, die sie von einem Heiler aus Hawaii gelernt habe, Heilsteinen und ihrer Indien-Reise. Eine andere Anbieterin aus Luxemburg vermischt die Fußreflexzonenmassage mit Prinzipien aus der sogenannten chinesischen Medizin. Über Facebook verkündet sie: „Laut dem Energiekalender der traditionellen chinesischen Medizin befinden wir uns seit dem 4. Februar bis zum 16. April in der Frühlingszeit. Es ist an der Zeit zu reagieren, um ihrem Körper zu helfen.“ Dann verpanscht sie anhand von Kettenassoziationen zwischen verschiedenen Organen und Gegenständen das Leben zu einem großen Ganzen: „Eine Fußreflexzonenmassage kann Energien über die Leber und die Gallenblase wieder in Gang bringen. Denn in der chinesischen Medizin sind das die Organe, die mit dem Frühling in Verbindung gebracht werden und repräsentieren das Element Holz.“
Für den letztes Jahr verstorbenen Esoterikforscher an der Sorbonne, Antoine Faivre, ist dieses Denken in Entsprechungen, in dem Verbindungen nicht kausal, sondern symbolisch hergestellt werden, ein Grundkonstitutivum der Esoterik. Esoterisches Denken geht von einer Art geheimen Sympathie zwischen unterschiedlichen Elementen aufgrund ihrer Ähnlichkeit aus. Dabei würden semiotische Zeichen nicht nur auf eine Idee verweisen, sondern zugleich zu einer Verschmelzung von Sein und Schein führen. Diese Art, die Welt zu betrachten, in der „metaphysische“ Qualitäten Priorität vor den physischen besitzen, und in der das Geistige der Hauptregisseur ist, steht seit der Neuzeit derjenigen der modernen Wissenschaft entgegen. Bekannte Personen im europäischen Raum, die eine Heilkunde auf Korrespondenzen aufzubauen versuchten, waren Paracelsius (1493-1541) sowie die katholische Nonne Hildegard von Bingen (1098-1179).
Im fünften Stock in einem Gebäude auf Kirchberg denkt Statec-Direktor, Serge Allegrezza, über religiöse und spirituelle Phänomene im 21. Jahrhundert nach. Zu zeitgenössischer Alternativmedizin hat er keine Statistiken. „Auch nicht zu Phänomenen wie der Tiefenökologie, Neoanimismus, Astrologie oder parawissenschaftlichen Interessen. Aber ich hoffe, dass wir eine Studie zu nicht-institutionalsierten, spirituellen Praktiken und Vorstellungen initiieren können.“ Vor zwei Wochen hat er Studien-Ergebnisse zu Religiösität in Luxemburg vorgestellt, die im Rahmen der European Value Studie ermittelt wurden. Darin wurde festgestellt, dass der Prozentsatz an Personen, die sich zu christlichen Überzeugungen und Praktiken bekennen, zwischen 2008 und 2021 von 75 auf 48 Prozent sank. Erörtet wurde zudem, dass religiöse Praktiken wie Beten und am Gottesdienst teilnehmen an Gewicht verlieren, nur fünf Prozent erachtet Religion als „sehr wichtig“. Immerhin 44 Prozent gaben sich als Religionslos sowie 18 als Atheisten aus. „Die European Value Studie ist eine empirische Langzeitstudie, deren Fragebogen 1978 aufgestellt wurde, also zu einem Zeitpunkt, als das Christentum kulturell dominierte, deshalb enthält das Studiendesign noch zu wenige Differenzierungen zu atheistischen Positionen und nicht-institutionnalisierter Religion“, gibt Serge Allegrezza zu bedenken. Die Befunde würden jedoch nicht-christliche Annahmen streifen, so lese man, 41 Prozent der Einwohner/innen würden an eine Art übergeordneten Geist glauben.
Die Schweiz ist womöglich das europäische Land mit den umfangreichsten statistischen Auswertungen zu neueren spirituellen Trends. Ihre Statistik zeigt, dass fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2019 in den zwölf Monaten zuvor eine Bewegungs- oder Atemtechnik wie Yoga, Tai Chi oder Qi Gong praktiziert hat und diese Übungen mit spirituellen Vorstellungen verband. Seit 2014 ist dieser Anteil gestiegen, sowie auch derjenige von Menschen, die angeben zu meditieren – vor allem in der Alterskategorie der Berufsanfänger/innen. Rezente soziologische Auswertungen unterstreichen jedoch, dass zeitgenössische spirituelle Vorstellungen, Erziehungswerte und politische Einstellungen weniger konsequent beeinflussen, als dies vor einigen Dekaden für die Zugehörigkeit zum Christentum der Fall war.
Der nationalen Statistikbehörde liegen vor allem Zahlen zu der Religionszugehörigkeit zum Buddhismus, Judentum, Islam, Protestantismus, Katholizismus und evangelikalen Gruppierungen vor. Die Katholiken führen mit 85 Prozent die Liste deutlich an und nur 2,7 Prozent sind Muslime. „Die muslimische Gemeinschaft ist eigentlich sehr marginal vertreten, man versteht den ganzen politischen Trubel um den Islam nicht“, kommentiert der Statec-Direktor seine Statistiken. „In Luxemburg haben wir zudem Mormonen, Zeugen Jehovas und ein paar weitere Sekten, aber keine statistische Auflistung dieser Gruppierungen.“ Darüber hinaus sage die Religionszugehörigkeit wenig über die Vitalität des Glaubens aus: „Viele Katholiken haben die zwölftausend Seiten der Bibel nicht gelesen, sondern bewegen sich lediglich in katholischen Gemeinschaften, ohne einen starken Glauben zu pflegen, das heißt, eine Vielzahl an Katholiken weist ein belonging without belief auf.“ In seinem Fazit hält er fest, dass Männer, politisch links Wählende und in Luxemburg Geborene deutlich weniger religiös sind. „Ich hätte gerne präziser ermittelt, wie das jeweilige Bildungsniveau mit Religiosität zusammenhängt, aber hierfür brauche ich bessere Daten.“
In ein paar Stunden beginnt die Bipartite, bei der der Statec-Direktor einen Vortrag über Inflationsprognosen halten muss, doch man gewinnt den Eindruck, dass er sich gerade lieber mit den ungewöhnlichen Seiten des Menschseins befasst: „Kognitionspsychologie ass mäi neien Dada“. Wie bewerten Menschen wissenschaftliche Evidenzen? Warum glauben Menschen? Wie halten wir kognitive Dissonanzen aus? Was braucht es, damit sich ein Mythos institutionell verankern kann? Diese Fragen beschäftigen ihn, eben weil er eine rational denkende Person sei, finde er Religiosität kurios – „ich verkaufe Zahlen“. Und wie beantwortet er sich seine Fragen? „Darauf gibt es viele Antworten“. Er zitiert Autoren, die ihn geprägt haben: Dan Sperber, Hugo Mercier, Stephen Pinker, Daniel Kahneman. Vor allem Kahnemans „Thinking, fast and slow“ habe er mehrmals gelesen. Kahneman argumentiert, im Alltag, wenn man schnell und spontan reagieren muss, verfalle man in ein intuitives, assoziativ-impressionistisches Denken, das gerne vereinfache, weil komplexes, vielschichtiges Denken Zeit in Anspruch nimmt. Hugo Mercier und Dan Sperber ihrerseits behaupten, der Glaube diene zumeist einem Selbstzweck. Rezent habe er zudem in einer Studie gelesen, Befragte würden wissenschaftliche Aussagen mehr Gewicht geben wie religiösen, und das beruhige ihn: „D’Leit sinn awer net verréckt.“
Mittlerweile hat sich ein Markt rund um mehr oder weniger esoterische Praktiken etabliert, dessen Dimension allerdings nicht bekannt ist. Eine Anbieterin der Reflexzonen- und Bioenergetischen-Massage aus dem Süden des Landes teilt mit: „Ich bin nahezu bis Dezember 2023 ausgebucht.“ Bis zu 50 Stunden die Woche arbeite sie, die meisten ihrer Stammkunden kämen alle zwei Wochen oder einmal im Monat. „Von Rückenproblemen, Diabetes, Stress, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Ängsten ist vieles dabei“, erklärt sie. Die Massageeinheiten dauern zwischen 45 oder 90 Minuten und kosten zwischen 70 und 130 Euro. Vor oder nach der Sitzung findet ein kurzes Gespräch statt. Viele Leiden führt sie auf das zeitgenössische Leben zurück, „et gëtt ëmmer méi gefuedert“. Das moderne Leben sei schnelllebig; die Erwartungen am Arbeitsplatz steigen, das setze die Menschen unter Druck. „Mein Ansatz ist holistisch; Körper und Psyche sind in ständiger Interaktion, Angst bedingt beispielweise Durchfall.“ Auch zu ihr kommen in der Mehrheit Frauen.
Dass eine Druckpunktmassage wohltut, ist unstrittig, denn an den Füßen befinden sich viele Nervenrezeptoren. Studien zeigen eine angstlösende, beruhigende sowie blutdrucksenkende Wirkung. Vor allem wegen ihres entspannenden Effekts wird die Reflexzonenmassage mittlerweile in einigen Krankenhäusern angeboten. Auch das Centre Hospitalier du Luxemburg (CHL) hat sie integriert. Auf Land-Nachfrage, welche Überlegungen hinter diesem Entscheid standen, kam keine Antwort. Immerhin ist der spirituelle Überbau, nach dem sich Organe in Fußpartien spiegeln sollen, nicht belegt; insofern stellt sich die Frage, wie groß die Offenheit von Krankenhäusern gegenüber spirituellen Vorstellungen sein sollte.
In soziologischen Untersuchungen zu Kund/innen von alternativer Medizin kristallisierten sich unterschiedliche Motivationen heraus, wie Unzufriedenheit mit Arzt-Patienten-Beziehung und Behandlungen in biomedizinischen Settings. Demgegenüber würden alternative Behandler sich mehr Zeit nehmen, mehr Rückfragen stellen und eine fürsorglichere Haltung pflegen. Weitere Gründe für die Attraktivität aus Kundensicht seien die Vermittlung der Verantwortung für den eignen Körper und eine neuentdeckte Körperkontrolle. Soviel für die Plus-Seite.
Auf der Minus-Seite steht: Die Sorge um die Sicherheit der Patienten durch eine Vermeidung oder Verzögerung der Inanspruchnahme evidenzbasierter Verfahren. In den USA wurde ermittelt, dass 20 Prozent alternative Methoden anstelle evidenzbasierter Methoden anwenden und 30 Prozent
komplementär dazu. Zumindest diese 20 Prozent verbinden womöglich ihre Gesundheitsanschauungen mit einer Kritik an der modernen Medizin und fungieren als Multiplikatoren von impfgegnerischen Botschaften. Der schwedische Soziologe Carl Cederström bemängelt seinerseits, dass bestimmte Zweige der Wellness-Kultur die Verantwortung für Krankheiten auf den Einzelnen abwälzen. Krankheiten werden dabei teilweise implizit mit Faulheit oder Willensschwäche in Verbindung gebracht. In vielen Sparten zeitgenössischer Spiritualität würde demnach Gesundheit moralisiert und psychologisiert sowie Druck auf das Individuum ausgeübt.
Das Behandlungszentrum, in dem Sandrine Fontaine ein Zimmer mietet, ist nüchtern eingerichtet. Eine Physiotherapeutin und Osteopathin empfangen hier ebenfalls Patienten. Im Wartezimmer steht ein anatomisches Knochenmodell neben einem Buch über „sanfte Medizin“. Spirituelle Vorstellungen, wissenschaftlich kaum untersuchte Methoden und der Bereich des medizinisch Fundierten streifen sich auf ein paar Quadratmeter im Bahnhofsviertel. Im Internet lässt sich ein luxemburgischer Psychotherapeut auffinden, der sich als Zen-Buddhist und Advaïta-Vedanta-Experten ausgibt. Er verspricht: „Connais-toi toi-même et tu connaîtras l’univers entier et les dieux.“ Mehrfach haben Sozialwissenschaftler/innen darauf hingewiesen, dass bestimmte spirituelle Vorstellungen insbesondere ins psychotherapeutische Milieu hinein diffundieren. Das musste auch der Psychiatrieprofessor der Universität Fribourg, Gregor Hasler, feststellen, als er für ein Buch über veränderte Bewusstseinszustände recherchierte und im Schweizer Jura an einer Ayahuasca-Sitzung teilnahm: Einige der Anwesenden waren „Ärzte und Psychotherapeuten, die ich von meiner klinischen Arbeit kannte“.