Den Himmel ohne Hölle schaffen

d'Lëtzebuerger Land vom 12.07.2024

Nur schemenhaft sind die trainierten Körper der Tänzer:innen Gaya de Medeiros aus Brasilien und Ary Zara (Portugal) zunächst auf der Bühne zu erkennen.

Langsam nähern sie sich an und stoßen sich mit ihren Mündern wieder ab. In ein herabhängendes Mikrofon rufen sie Worte: das Leben, Konsequenz, ein Risiko ...

Zu den per Video auf eine Leinwand projizierten Worten mimen sie Figuren: das Göttliche, der Besuch, einen geschlechtslosen Fisch.

Atlas da Boca erforscht zwei Trans-Körper durch das Organ des Mundes. Als Symbol wird der Mund zur Schnittstelle zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Erotischem und Politischem, zwischen Schweigen und anhaltendem Sprechen. Das Stück hinterfragt die „Worte“, die durch Gesten übermittelt werden, und konzentriert sich auf die Momente, in denen der Mund hart wird und die Worte herausgebrüllt werden.

„Ich habe meine Kindheit und einen Teil meiner Jugend sehr still verbracht. Ich habe unzählige Tage damit verbracht, Menschen und vor allem ihre ‚Nicht-Worte‘ zu lesen. Ein Wort, eine Geste, ein Wort, ein Blick, ein Wort, ein Atemzug enthalten so viel Wahrheit und Geheimnisse, dass ich mein Leben damit verbringe, die Wege zu lesen, die die Gedanken in den Körper einschreiben. Ich glaube, die Show beginnt hier“, beschreibt Gaya de Medeiros den Ausgangspunkt ihrer Performance. Wenn sie während der Darbietung über ihre Transsexualität spricht, stockt sie unvermittelt bei dem Wort ... als wäre sie angesichts der sicher folgenden (Vor-)Urteile machtlos.

Wo seid ihr? Woher stammt ihr? Und was seid ihr? Beklemmende Fragen. „Eine fremde Zunge lässt mich nicht bequem fühlen!“

Das Paar zieht sich gegenseitig an den Mündern hoch und schafft ständig neue Bilder. Einen Bullen, der in die Arena rennt, einen kleinen Jungen aus Holz. „Ich sehe mich als Kämpferin“, erklärt Gaya und rennt den Wörtern hinterher, springt nach ihnen und greift danach wie nach Träumen, die sie einzufangen versucht.

Wozu traditionellen Lebensmodellen und heteronormativen Erwartungen folgen, wenn sie einen doch nur erschöpfen? Im Portugiesischen ähnelten sich die Wörter „verheiratet sein“ und „müde werden“ auf erstaunliche Weise, erklären die lusophonen Tänzer:innen. Wird man müde, wenn man jahrelang Zeit mit jemandem verbringt?

Ary Zara beginnt zu kämpfen, aber es ist ein Schattenkampf, die Disziplin Kata aus dem Karate, feierlich verkündet er die Abfolge „Saifa“ und atmet schwer. Der Schattenkampf wird zum Zweikampf der beiden und löst sich irgendwann auf in eine intime körperliche Choreografie, in der beide ihre Geschlechter entblößen und sich Gender-Grenzen tatsächlich für einen Augenblick auflösen. Kampf und Frieden liegen in ihrer eindrucksvollen Performance sehr nahe beieinander. Hass und Aggressionen lösen sich in Liebe auf: „Let’s create a Heaven
without Hell!“

Atlas da Boca ist eine kurze intime Reise, die sich humorvoll und zärtlich mit der eigenen Identität auseinandersetzt und dabei Verletzungen freilegt. In nur 50 Minuten brechen die Körper aus den ihnen auferlegten Grenzen aus und tanzen sich frei. Eine tänzerische Ode auf die Freiheit der Geschlechter.

Anina Valle Thiele
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