Unsere Heldengeschichten verlaufen nach Mustern. Sie sind emotional und dramatisch, stets gibt es die Guten und die Bösen und am Ende steht ein Happy End. Vielleicht ist dies auch der Tatsache geschuldet, dass der Westen und Europa sich seit Jahrtausenden in binären Gegensätzen entwirft und denkt. Es gibt schwarz oder weiß, klein oder groß, männlich oder weiblich. Da ist nicht viel Raum für ein Dazwischen und eine Vielfalt jenseits der Norm.
In dem Theaterstück Nornen wird rasch klar: Es geht ums Geschichtenerzählen und darum, wie sich dieses im Laufe der Zeit verändert hat. Denn die griechische Mythologie bildet gerade im Theater seit jeher den Dreh- und Angelpunkt unserer Held/innengeschichten.
Oder man lässt den Blick gen Norden schweifen: wie Jacques Schiltz und Claire Wagener es mit Nornen tun. Die mythologischen Figuren aus dem Universum der nordischen Sagen sind bei dieser Produktion des Escher Theaters, eine Koproduktion mit dem Kasemattentheater, die zentralen Gestalten.
Wagners Rheintöchter in seinem Ring der Nibelungen lassen grüßen. Zum Glück heißen die Göttinnen bei Schiltz nicht Floßhilde, Wellgunde und Woglinde; sie treten kämpferisch auf und heißen pragmatisch Norne Eins, Zwei und Drei, verkörpert durch Frédérique Colling, Catherine Elsen und Anne Klein. Sie tragen Gewänder, die an Computerspiele erinnern und doch auch an japanische Kimonos. „Mir halen hei Kimonolog“, wird Norne Eins klarstellen.
Ihre klassische Funktion besteht darin, Fäden zu spinnen und das Schicksal zu lenken. So weben und flechten sie die Handlungsstränge von Geschichten und dies auf unkonventionelle Weise, in dem sie Wege einschlagen und Erzählfährten legen, um diese abrupt wieder zu verlassen und in andere Richtungen auszuscheren. Doch schon dies bereitet ihnen Kopfzerbrechen und stellt sie vor Fragen: Muss eine Bühnen-Geschichte zwangsläufig aus drei Akten bestehen, wie es Aristoteles in seiner Poetik beschrieb? Wie groß dürfen Zeitsprünge sein?
Dass Schiltz und Wagener auch in ihren Bühnenproduktionen immer wieder neue Wege einschlagen, ist bekannt. Man erinnere nur an ihre Inszenierungen von Helge Schneiders Mendy, das Wusical (vgl. „Zum Wiehern!“ in d’Land vom 14.05.2016) oder ihr letztes (Musik-)Stück „Weinender Mond“. Mit Nornen brechen sie wieder auf zu neuen Ufern, um neue Erzählwege- und Weisen zu erkunden.
Zu Beginn versteht man als Zuschauerin nur Bahnhof: ein Kauderwelsch aus einer nordischen Sprache, die einen mit den vielen Äs und Ös an Möbelstücke einer schwedischen Möbelhaus-Kette denken lässt ... Doch nach zwei Minuten ertönt eine Stimme befreiend aus dem Off, die verkündet, dass der Rest des Stückes auf Luxemburgisch gespielt wird.
Die Zuschauer/innen blicken auf ein waberndes, tropfendes Geflecht, das die Blicke des Publikums seltsam auf sich zieht. Die zentrale Installation für das Bühnenbild hat Michèle Tonteling bereits vorher entworfen – die Künstlerin erhielt dafür eine Carte Blanche.
Der mythologische Brunnen der drei Nornen war dabei wohl eine wichtige Inspiration für sie. Das stetig tropfende Gebilde wirkt honigwabenartig und doch wie schmelzendes Eis und erinnert mit seinem Klangrausch an die Installation En attendant Kyoto von Max Vandervorst. Sie ist ein eindrucksvoller Blickfang und bildet einen ästhetischen Gegensatz zu dem ironischen Text.
Diesen haben Schiltz und Wagner in Zusammenarbeit mit den Schauspielerinnen während der Proben entwickelt und sich dabei offenbar köstlich amüsiert. Sprache, Erzählformen und Wege werden in dem Text auf die Schippe genommen und von den drei Nornen kritisch reflektiert: „Ech fäerten nawell, datt mer herno mat enger ultrapretentiéiser Zopp do hänken“, gibt die dritte Norne beim Ausloten der Erzählung zu bedenken.
Anfangs kreist alles noch um „Ragnarök“, den großen Moment, den Tag, an dem die ganze Welt im Wasser untergeht, verdampft und schmilzt. Also doch ein apokalyptisches Szenario?
Sukzessive wird klar, dass es um grundsätzliche Fragen des Geschichtenschreibens und Erzählens geht: Wie erzählt man eine große universelle Geschichte von vorne bis hinten ohne in althergebrachte Muster zu fallen? „Do ass keng Plaatz fir Hyperlinking, Fragmentéierung an onwichteg Nieweplots. Dat spléckt eist Seel, dat mer amgaang sinn ze flechten“, so die dritte Norne. Ragnarök ist kein Klapptisch von Ikea, sondern steht für die Klimax, den Höhepunkt ihrer epischen Erzählung. Mutig werfen die drei Nornen, deren Kostüme an Manga-Figuren inspiriert scheinen, Fragen in den Raum und spielen sich und dem Publikum die Bälle zu, schaffen wieder und wieder Illusionen, um diese konsequent zu durchbrechen; wie die Vierte Wand selbst. Sie wissen um die Sperrigkeit dieses Vorhabens: „Dir Dammen an dir Hären, léif Frënn. D’Geschicht vun der Mënschheet ass eng voller Dréinungen a Wendungen. De Pad zur Moderniséierung ass ustrengend. (...).“
Schließlich stellen sie Fragen, wie kommerziell und an Events gekoppelt ihre Erzählung sein muss. „Musse mer eis dann ëmmer deem Diktat vun den Narrativen ënnerwäerfen? Där Eventkultur“, fragt die erste Norne. Vermarktung sei wichtig, wie Figuren vom Jungen und Vater. „Wéi solle mer soss dat ganzt Äis bezuelen?“, wirft die Dritte ein.
Dann aber erzählen sie doch eine rührselige Geschichte, und zwar ausgerechnet die vom Xi Jinping, die Fabel eines kleinen Jungen, der in die Welt aufbrach, Großes im Sinn, eine Geschichte über Idealismus, die in Despotie endet ... Und landen bei der Unterdrückung und Inhaftierung der Uiguren in Xinjiang! Wieso auch nicht? Die Uiguren wurden eh viel zu lang in der medialen Berichterstattung vernachlässigt.
Wenn die Welt schon aus den Fugen gerät, dann stricken sie wenigstens am Zusammenhalt und einem größeren Zusammenhang. Einen Versuch ist es wert. Irgendwann werden die Erzählstränge in Chaos ausarten und sich die drei Nornen überwerfen: „Aha. Et war rëm alles Theater du intrigant manipulativ Schlaang.“
Doch die Versuche werden sich nach einer Stunde erschöpfen. So spielen die drei Nornen am Ende dem Publikum den Ball zu.
Nornen ist ein mutiges Bühnen-Experiment und zugleich ein Appell an die Kreativität von Theater-Schreibenden. Es richtet sich nicht zuletzt an das Kultur-konsumierende Publikum, aus seiner Komfortzone auszubrechen, sich von den Erwartungen nach den immer selben Mustern bespaßt und unterhalten zu werden, zu befreien und neue Wege einzuschlagen, sich für Neues zu öffnen. Oder anders gesagt: Man muss seine Lebensmittel nicht im Cactus kaufen. Hinter der Grenze gibt es wunderbare Märkte.
Durch die vielen Handlungsstränge, die immer wieder ins Leere laufen, ist die Inszenierung sehr unruhig, streckenweise etwas überdreht und fordernd für die Zuschauer/innen. Jacques Schiltz hatte wohl etwas zu wenig Vertrauen in seinen Text, respektive die Bühnenpräsenz. Das ist schade, denn der Text selbst (bei dem Samuel Hamen für die Dramaturgie zeichnet) ist witzig und trägt das Stück ganz von selbst.