In drei Wochen finden Parlamentswahlen statt. Dann rätseln Politiker, Leitartikler und Wahlforscher wieder über „den Wähler“.
Am Freitag veröffentlichten die Wirtschaftswissenschaftler Julia Cagé und Thomas Piketty Une histoire du conflit politique. Élections et inégalités sociales en France 1789-2022 (Seuil). Sie wehren sich „contre l’idée selon laquelle les conflits politiques du temps présent seraient devenus illisibles“. Denn die politische Auseinandersetzung „oppose des intérêts et des aspirations socio-économiques contradictoires“ (S. 844).
Auf 861 Seiten untersuchen sie Wahlergebnisse der letzten zwei Jahrhunderte. Dazu sammelten sie die Ergebnisse von 58 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in 36 000 französischen Gemeinden. Und verglichen sie mit den sozialen und ökonomischen Verhältnissen in den Gemeinden.
„On peut ainsi comparer la manière dont votent les communes les plus pauvres (définies par exemple par leur niveau de revenu ou de capital immobilier moyens) et les communes les plus riches, ou bien les communes les plus agricoles et les moins agricoles, les plus industrielles et les moins industrielles, et ainsi de suite“ (S. 22).
Diese Unterschiede gibt es nicht nur in Frankreich: In Vianden sind 32 Prozent der Einwohner Arbeiter, in Weiler zum Turm sechs Prozent. In Differdingen haben 32 Prozent der Einwohner nur einen Primärschulabschluss, in Schüttringen acht Prozent. Das Medianeinkommen in Niederanven ist fast doppelt so hoch wie in Reisdorf (Statec-Bulletin 2-17, S. 30).
Die sozialen Unterschiede drücken sich im Wahlverhalten aus. Cagé und Piketty: „[S]i l’on examine les choses de plus près, on constate que ces divisions correspondent à des clivages extrêmement marqués et prévisibles sur le plan socio-économique“ (S. 844).
„[L]a classe sociale“, betont Thomas Piketty, „explique aujourd’hui, selon nos calculs, 70% des écarts de vote entre deux communes“ (L’Obs, 7.9.23).
Denn „c’est bien la classe sociale qui détermine le vote, à condition toutefois d’envisager cette dernière dans une perspective multidimensionnelle“ (S. 844). Sie nennen diese Perspektive „classe géo-sociale“. Die begreift Einkommen, Immobilienbesitz, Schulabschluss, Beruf, Status und Siedlungsform. Das Verhältnis der Klassen zu den Produktionsmitteln mied Thomas Piketty schon in früheren Werken.
Das Autorenpaar kommt zu dem Schluss: „Le principal résultat de notre recherche est sans doute le suivant: la classe sociale n’a jamais été aussi importante qu’aujourd‘hui pour comprendre les comportements de vote“ (S. 844).
Hierzulande wird die gegenteilige Ansicht verbreitet: „Der Wähler“ ist ein monadischer Politikkonsument. Die Parteien sind Politikproduzenten. Alle fünf Jahre entscheidet sich Ersterer nach Lust und Laune zwischen den Angeboten Letzterer. So als lebten wir alle in einem Supermarkt.
Alle Parteien wären am liebsten Volksparteien. Eines glücklichen Mittelschichtenvolks. Vermögens- und Einkommensstatistiken gelten als indezent. Das sozialpartnerschaftliche Großherzogtum darf nicht als Klassengesellschaft erscheinen. Auch wenn Sozialpartnerschaft Klassen voraussetzt.
Die akademische Rechtfertigung dieser Darstellung liefert der Lehrstuhl für Parlamentarismusforschung. Er wird vom Parlament bezahlt. Seine Polindex-Umfrage beruft sich auf marktkonforme Theorien: „La théorie des clivages (S. M. Lipset; S. Rokkan). L’individuation (C. G. Jung). Le rapport matérialiste/post-matérialiste (R. Inglehart)“ (Polindex 2023, S. 223). Mit diesen Theorien verarbeitet er Meinungsumfragen zu Wahlanalysen.
Eine Meinungsumfrage „ne permet pas de croiser les variables de façon satisfaisante“, schätzen Cagé und Piketty (S. 29). Sie erlaube nur oberflächliche und unpräzise Wahlanalysen. Der Soziologe Fernand Fehlen bezweifelt die Repräsentativität der Polindex-Umfrage. Er rückt sie in die Nähe von „Datenschrott“ (Forum, September 2023).