Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Taux d’effort

d'Lëtzebuerger Land vom 25.08.2023

„Die Wohnungskrise ist die größte Sorge der Menschen hier im Land“, heißt es im Wahlprogramm der CSV (S. 7). „Le logement pèse lourdement sur le budget des ménages moins aisés“, stimmt das LSAP-Programm zu (S. 24). Die DP bestätigt: „Die im Vergleich zu den Einkommen stärker steigenden Wohnungspreise belasten die Kaufkraft und hemmen die wirtschaftliche Entwicklung“
(S. 16). Déi Gréng sind fassungslos: „Die Ursache[n] für die Entwicklung liegen Jahrzehnte zurück – und wurden von den politischen Verantwortlichen ebenso lang ignoriert“ (S. 75).

Alle Parteien sind sich einig: Es soll etwas gegen die steigenden Wohnungspreise unternommen werden. Keine will wissen, weshalb die politischen Verantwortlichen die Ursachen seit Jahrzehnten ignorieren.

Lohnarbeit ist ein äquivalenter Tausch: Arbeitskraft gegen Erstattung der Lebenshaltungskosten. Über die Lebenshaltungskosten hinaus bekommen die Lohnarbeiterinnen einen Teil ihrer Arbeit nicht bezahlt. Die Käufer ihrer Arbeitskraft behalten ihn als Mehrwert ein. In der Geschäftsbilanz taucht er als Profit auf. Kritiker nennen den Prozess primäre Ausbeutung.

Vermieten ist eine Form der sekundären Ausbeutung. Sekundäre Ausbeutung geschieht nicht durch die Arbeitskraftkäufer. Sondern durch andere besitzende Klassen und Schichten. Beispielsweise Ertragshausbesitzer: vom Baulöwen bis zur Angestellten, die eine kleine Erbschaft in eine Mietwohnung anlegt.

Die sekundäre Ausbeutung hält keinen Mehrwert vom Arbeitsertrag zurück. Sie wartet, bis der Lohn ausgezahlt ist. Dann zehrt sie vom Nettolohn. Sekundäre Ausbeutung ist ein nicht-äquivalenter Tausch: Die Vermieterin zwingt ihre Mieter, mehr als den Wert zu zahlen. Mehr als sie investiert hat.

1907 besuchte der Verein für die Interessen der Frau 90 Vorstadthäuser mit 258 Wohnungen. Er stellte fest: „Der Mietpreis schwankt zwischen 7 und 20 % des Einkommens“ (Einiges über Wohnungsverhältnisse der ärmeren Arbeiterbevölkerung in Luxemburg, Luxemburg 1907, S.9).

„Die durchschnittlichen Löhne der ungelernten Arbeiter betragen 3,80 und 4 M[ark] jene der gelernten Arbeiter 4,50 resp. 5 M.“, schrieb am 10. März 1912 ein Escher Leser im Armen Teufel. „Eine Zweizimmerwohnung ohne Zubehör kostet 20 bis 30 M. monatlich.“ Dies entspricht einer durchschnittlichen Kaltmiete von 22 Prozent des Lohns.

2019 mussten die Mieter 37,3 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen ausgeben (Observatoire de l’habitat, Note 27, S. 5). 34,5 Prozent der Mieterinnen mussten sogar mehr als 40 Prozent ausgeben (S. 7). Binnen eines Jahrhunderts hat sich die Mietbelastungsquote verdoppelt. Taktvoller: „taux d’effort“.

Es gelang den Vermietern, die sekundäre Ausbeutung drastisch zu steigern. Im vergangenen Jahrzehnt konnten die Bauträger ihre jährlichen Profite verachtfachen – primär auf Kosten gering bezahlter Bauarbeiter und sekundär der Wohnungssuchenden (Autorité de la concurrence, Enquête sectorielle immobilier résidentiel, S. 10).

In der Konsumgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hat die sekundäre Ausbeutung bedeutend zugenommen. Miete ist nur eine ihrer Formen. Eine andere sind Kredite. Wohnungseigentümer mit Hypothekardarlehen mussten 29,5 Prozent fürs Wohnen ausgeben (Observatoire de l’habitat, S. 5). 24 Prozent der verschuldeten Eigentümer mussten mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen zahlen (S. 7).

Seit Mitte vergangenen Jahres verdreifachten die Banken ihre Zinsen auf Immobilienkrediten von 1,34 auf 4,42 Prozent (www.bcl.lu, Statistiques). 2022 steigerten sie ihre Einnahmen aus der Zinsmarge zwischen Kundeneinlagen und Krediten um 39 Prozent (CSSF, Communiqué de presse 23/05).

Mieten oder Hypothekardarlehen belasten 59 Prozent der Haushalte (Observatoire de l’habitat, S. 4). Sie gehören zu den ergiebigsten Formen sekundärer Ausbeutung. Deshalb können die politischen Verantwortlichen seit Jahrzehnten nichts an den Ursachen ändern .

Romain Hilgert
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