ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der Fehler

d'Lëtzebuerger Land vom 08.09.2023

„Ich habe einen Fehler gemacht und werde mich beim Präsidenten des Staatsrats entschuldigen.“ Erklärte LSAP-Staatsrat Lucien Lux auf der Internetseite reporter.lu (23.8.). Der Staatsrat brachte sich wieder in Verruf. Doch bleibt er unbeirrt.

Lucien Lux hatte vorzeitig ein Zusatzgutachten weitergeleitet. Es ging um die Reform der Krankenhausplanung. Empfänger war der Baulöwe Flavio Becca. Lucien Lux hilft ihm bei Investitionen in die Privatisierung des Gesundheitswesens. Die Parteikollegin Gesundheitsministerin auch. Letztere unentgeltlich.

Pioniere sind oft Märtyrer. Als Minister war Lucien Lux ein Pionier der Ökosteuer. Er erhöhte die Autosteuer auf Großraumlimousinen und Geländewagen. 30 000 Autofahrer traten in einen Steuerstreik. Die Regierungskollegen hatten Verständnis. Lucien Lux verlor die Wahlen und sein Ministeramt.

2013 strandete der Südabgeordnete auf der Zentrumsliste der LSAP. Er verlor auch noch sein Abgeordnetenmandat. ZumTrost schickte die LSAP ihn in den Staatsrat. Die Nebenbeschäftigung ernährt ihren Mann nicht standesgemäß. Seither muss Lucien Lux uberisieren: Er arbeitet als Scheinselbständiger für Herrn Becca. Der ernährt seinen Mann. Vom Gewerkschaftsfunktionär zum Zuarbeiter eines Multimillionärs ist ein abschüssiger Weg.

In der Revolution von 1848 wurden die königstreuen Beamten aus dem Parlament verjagt. Mit dem Putsch von 1856 schuf der König-Großherzog ihnen eine eigene Kammer. Für Verwaltungschefs, Richter, ehemalige Minister. Als Selbsterhaltungsorgan des Staatsapparats.

Der Staat soll ein Fels in der Brandung der Gesellschaft sein. Deshalb soll der Staatsapparat autonom sein. Seine ökonomische Grundlage waren zuvor Schmelzen, dann Banken. Deshalb hält der Staatsrat die Interessen der Schmelzherren und Bankiers für die Interessen des Staats. Seit dem Zweiten Weltkrieg nimmt er Direktoren der Stahlindustrie, der Banken und ihre Geschäftsanwälte auf. Sie dürfen ihre Kompetenz beweisen. Wenn Gutachten zu ihren Geschäftsbereichen erforderlich sind. Im Vergleich scheint der Bauträger Flavio Becca benachteiligt. Lucien Lux bemühte sich, das Unrecht gutzumachen.

Von den 207 Staatsräten seit 1857 stammten vier aus der Arbeiterklasse: die in der LSAP aufgestiegenen OGBL-Funktionäre John Castegnaro, Johny Lahure und Lucien Lux. In einem Brief an Premier Jean-Claude Juncker hintertrieb der Staatsrat die Ernennung von Dan Kersch. Der Präsidentin eines Vereins für Armenfürsorge zog er eine Anwältin für Grundeigentum vor. Das freute vielleicht Herrn Becca. Für neue Anwärter legte sich der Staatsrat Kompetenzkriterien zurecht. Sie erklären Vertreter der an Produktionsmitteln und Grundeigentum armen Klassen für inkompetent.

Der Staatsrat verkörpert Platons idealen Staat: Die Herrschaft weiser Technokraten. Sie wurden von niemandem gewählt. Sie tagen hinter verschlossenen Türen. Sie treffen ihre Entscheidungen anonym. Sie sind niemandem rechenschaftspflichtig. Sie tun Demokratie als Populismus ab.

Der Staatsrat ist eine Notbremse. Wenn ungestüme Parlamentsmehrheiten die herrschende Ordnung verändern wollen. Das kommt eher selten vor. Manchmal verlangt die Staatsräson ein heikles Gesetz. Dann weckt der Staatsrat keine schlafenden Hunde. Dann sieht er über den Inhalt hinweg. Und beschränkt sich auf legistische Betrachtungen, die Hierarchie der Ordinalzahlen, die Interpunktion.

Gegen gesellschaftlichen Fortschritt äußert der Staatsrat formale Bedenken. Er bringt Einwände vor, droht mit „oppositions formelles“. Umverteilung von unten nach oben ist ihm ein Gräuel. Freiheit ist für ihn die ungehemmte Verfügungsgewalt über Privateigentum.

Vom Maulkorbgesetz bis zur Abschaffung der Todesstrafe – der Staatsrat fand sich immer wieder auf der falschen Seite der Geschichte wieder. Doch Staatsräte wie Lucien Lux können Fehler begehen. Der Staatsrat nicht.

Romain Hilgert
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