Das Nationalarchiv ist in einer ehemaligen Kaserne untergebracht. Historische Ausstellungen zeigt es in einem engen, langen Gang. Er unterstützt eine teleologische Geschichtsauffassung: Besucher marschieren von der Darstellung derber Ursprünge am Eingang zu einer strahlenden Gegenwart am Ende des Gangs.
Das Geschichtsbild von der Rückkehr ins verlorene Paradies, vom unaufhaltsamen Fortschritt bleibt beliebt. Es soll zeigen, dass die heute herrschenden Verhältnisse die besten aller Zeiten sind. Es prägt die Ausstellung 1848 – Revolutioun zu Lëtzebuerg.
Zwei Wochen nach der Revolution in Paris wurden in 62 Dörfern und Städten Unterschriften gesammelt gegen die Steuern, die Lebensmittelpreise, die Arbeitslosigkeit, die Zivilliste, die Zensur, das Zensuswahlrecht. In größeren Ortschaften griffen Arbeiter die Häuser von Steuereinnehmern, Bürgermeistern und Getreidehändlern an. Sie protestierten gegen die Arbeitslosigkeit und die Spekulation. Sie forderten eine Republik. Das Parlament flüchtete nach Ettelbrück. In Ettelbrück bewaffneten sich Aufständische, bauten eine Barrikade und beschossen die Gendarmerie. Ein Mann kam ums Leben. Die Regierung schickte Soldaten, Gendarmen, Förster und Zöllner, um die Aufstände niederzuschlagen. Das Echternacher Bataillon meuterte.
Die Revolution von 1848 war die zweite hierzulande binnen 20 Jahren. Sie war Teil des „Völkerfrühlings“ in Europa. Und in den Kolonien: Von der Bauernrevolte im singhalesischen Matale bis zum Sklavenaufstand in Dänisch-Westindien.
In Luxemburg wollte sich das liberale Bürgertum von der ökonomischen und politischen Last der Monarchie befreien. Arbeiter und Handwerker meldeten sich erstmals als unterdrückte Klasse zu Wort. Mit einem (nicht ausgestellten) „Aufruf an die Arbeiter des Luxemburger Landes“. Der Klerus suchte, sich mit den besitzlosen Klassen gegen das freimaurerische Bürgertum zu verbünden. Der König-Großherzog stützte sich auf seine Regierung, auf konservative Großgrundbesitzer und heimlich auf den Apostolischen Vikar.
Das illustriert die Ausstellung mit Dutzenden zeitgenössischer Dokumente. Dann macht sie einen gewaltigen Sprung von 1848 bis 2023. Um zu den Siegern und Verlierern aus heutiger Sicht zu kommen.
Als Verlierer erscheinen jene, die am Ende der Ausstellung gar nicht mehr erwähnt werden: Der Großherzog, der ab 2009 seine Vorrechte gegen eine Erhöhung der Zivilliste tauschen musste. Der Klerus, den die liberale Koalition nach dem Ende des CSV-Staats samt Gotteshäusern und Religionsunterricht privatisierte. Die gegen Lohn Arbeitenden, denen weder Produktionsmittel noch Produkte gehören, die weiter in einem Unterordnungsverhältnis stehen.
Als Sieger feiert die vom Parlament bestellte Ausstellung den repräsentativen Parlamentarismus. Die adäquate Herrschaftsform des im 19. Jahrhundert aufgekommenen Industriekapitalismus.
Das Schlusswort am Ende des engen, langen Gangs gehört der Verfassung vom 1. Juli 2023. Als erfüllte sie endlich den Traum der Revolutionäre von 1848. Auch wenn die Staatsbürger von 2023 gar keine neue Verfassung verlangten. Und keine Volksbefragung erhielten.
Neue Zwänge der Rechtsprechung, der Diplomatie, des Außenhandels verlangten ein neues Grundgesetz. Es muss die herrschenden Verhältnisse juristisch eindeutiger definieren. Es passt sich einem liberaleren Lebenswandel an.
Die Verfassung von 2023 ist die Fortsetzung der Verfassung von 1848: Ungeachtet aller Aktualisierungen und Modernisierungen bleibt oberstes Ziel die Trennung von Demokratie und Wirtschaft. Inszeniert als Trennung von Öffentlichem und Privatem: Am Eingang zum Büro oder zur Fabrik hört die Demokratie auf, beginnt das Privateigentum. Die Besitzbürger von 1848 heißen nun „Investoren“ oder „die Märkte“. Die Großgrundbesitzer werden nun „land grabbers“ genannt. 1848 saßen sie im Parlament. Heute lassen sie sitzen.