Seit drei Monaten sind in Steinsel Bauarbeiter und Ingenieure damit beschäftigt, die Alzette umzuleiten. Die Steinseler Renaturierung ist eine von vielen im Land – Allheilmittel gegen Hochwasser,
Artensterben und urbane Eintönigkeit

Platz fürs Wasser

d'Lëtzebuerger Land vom 08.09.2023

Der Spielplatz ist der Hotspot des Steinseler Soziallebens, der Kleber für den Dialog mit dem Nachbarort Walferdingen. Der Spielplatz an der Grenze der beiden Gemeinden zieht in seiner Blütezeit bis zu 150 Kinder an, viele mit Eltern im Schlepptau. Der Spielplatz ist die größte Sorge der Anwohner – beziehungsweise sein vorübergehendes Verschwinden. Wo einst das brummende Herz des Ortes vor Sandburgen und Schaukelsaltos sprühte, ist heute platter Lehmboden, aus dem schon einige Grashalme sprießen. Auf dem Fahrradweg entlang der Alzette fahren Lastwagen. Der Weg ist nur etwa hundert Meter lang begehbar, bis zum Hinweis „Betreten verboten, Baustelle“ an einem Ende, einem Metallzaun und dem Warnschild „Hochwasser“ am anderen. Die Alzette in Steinsel wird renaturiert. Der ursprüngliche Verlauf des Flusses wird wieder hergestellt. Landkarten aus dem 18. Jahrhundert zeigen die geschlängelte Linie der Alzette. Wo früher ein großer Schlenker war, ist heute ein strichgerades Flussbett – schlank und platzsparend. Früher hatte die Alzette bis zu 18 Meter Platz, um sich seitlich auszubreiten, heute sind es kaum drei Meter. Wer die Alzette damals umgelegt hat, hatte weder die Auswirkungen auf Hochwasser im Sinn noch das ökologische Gleichgewicht.

Nun bekommt die Alzette den alten Schlenker zurück, ein breiteres Flussbett und mehr Platz zum Überschwemmen. Seit Mai arbeiten Bauarbeiter daran, das neue, beziehungsweise alte Flussbett auszuheben. Der Spielplatz werde an einem anderen Ort eröffnet, der Ausblick vom Radweg noch grüner, beschwichtigt Bürgermeister Fernand Marchetti (LSAP) die Steinseler Eltern. Nächstes Jahr soll die erste Phase der Renaturierung fertig werden – und sie muss gelingen. Denn Marchetti und seine Schöffen möchten die Steinseler von dem Vorhaben überzeugen, auch einen zweiten Abschnitt der Alzette umzuleiten. Bisher mussten für die 400 Meter Alzette nur landwirtschaftliche Flächen weichen. Die wenigen Eigentümer ließen sich – zu hohen Preisen und großen Austauschflächen – schnell überzeugen, ihre Flächen an die Gemeinde abzugeben. Bei der nächsten Phase sollen private bewohnbare Grundstücke im neuen Graben der Alzette landen. Um die Eigentümer zum Verkauf zu überzeugen, brauchen Marchetti und seine Schöffen gute Argumente. Diese zweite Phase existiert bisher nur auf dem Papier.

Renaturierung ist das Mittel der Wahl, um den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels entgegenzutreten. Unwetter mit Starkregen häufen sich und lassen immer schlimmere Hochwasserkatastrophen fürchten. Wasser aus der Alzette, Wasser vom Kirchberg, Wasser aus der Mamer – alles landet im Merschertal, in Steinsel. Steinsel sucht Lösungen. „Wir sind noch bei keinem Hochwasser davongekommen“, sagt Marchetti. Er weiß, die renaturierte Alzette allein wird Steinsels Hochwasserprobleme nicht lösen, aber erhofft sich zumindest eine Minderung. Hochwassermodelle sagen voraus, dass schon die Walferdinger Renaturierung den Hochwasserpegel in Steinsel um 20 Zentimeter senkt. In Walferdingen wurde 2011 ein Alzette-Abschnitt zurück in seinen Urzustand versetzt. Die Alzette in Steinsel, Walferdingen und im Réiserbann, der Zufluss Pétrusse in Luxemburg-Stadt – Renaturierung ist in Mode.

Auch in Esch/Alzette hat der namensgebende Fluss mehr Platz bekommen, wenn auch außerhalb der Innenstadt. In der Innenstadt von Esch/Alzette suchen Touristen die Alzette vergeblich. Sie ist eingezwängt in ein Kanalbett, überdeckt von der Straße, unsichtbar und gezähmt. Mit nur einem Knick durchläuft sie Esch von der französischen Grenze bis zur Metzeschmelz in Lallingen, ohne kaum jemals aufzufallen. Erst dort darf sie wieder Kurven schlagen, im neuen Feuchtgebiet in Lallingen, und schließlich auf der Höhe von Schifflingen in die Freiheit fließen. Im Dumontshaff im Réiserbann mäandert die Alzette seit 2004 wieder in einem breiten Flussbett durch schlammige Wiesen und nährt ein artenreiches Feuchtgebiet. Die Komponistin Catherine Kontz grub für ihren Beitrag zur Kulturhauptstadt Esch 2022 die Alzette aus. In ihrem Audio-Spaziergang erinnern sich zwei Herren, wie sie als Kinder in Esch über den Fluss gesprungen sind. Die Berichte aus dem Radioprogramm „Aus der Kannerzäit“ aus dem CNA-Archiv wurden 1960 aufgenommen und erzählen, wie die beiden Herren ihre Kindheit um 1900 erlebten, wie „wir mit zehn Metern Anlauf alles aus unseren kleinen Beinen herausgeholt haben, was sie hergegeben haben, um uns im richtigen Moment zwei Handbreit vom Boden abzustoßen und dann in einem eleganten Sprung über die Alzette zu setzen“. In ihrer Erinnerung floss die Alzette nah am Brillplatz im heutigen Stadtzentrum, damals umgeben von einer Wiese, die die Jungs zum Spielen nutzten.

Während in der Escher Innenstadt kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt, die Alzette wieder auszugraben, hat die Renaturierungswelle andernorts sogar Innenstädte erreicht. Innerhalb der Städte, wo wenig Platz für solche Projekte ist, haben sie oft nur geringe Auswirkungen auf Klima und Umwelt, dafür mehr auf die Lebensqualität. Einst von Abwasser und Fabrikausscheidungen stinkende Flüsse wie die Ruhr in Nordrhein-Westfalen schmücken die Innenstädte heute mit grünen Ufern. Die Welle hat auch ganz Luxemburg erreicht. Um die Alzette in Steinsel und die Pétrusse in der Hauptstadt umzugraben, hat die Regierung sich im März neun Millionen Euro von der Europäischen Investitionsbank geliehen.

„Wir setzen ganz viel auf Renaturierungen unserer Fließgewässer“, sagt Jean-Paul Lickes, der Direktor des Wasserwirtschaftsamts. „Wir geben Flüssen den Platz zurück, den die Urbanisierung ihnen genommen hat. So können sie sich besser ausbreiten, wenn große Wassermengen kommen, und wir schaffen auch mehr Artenvielfalt.“ Für Jean-Paul Lickes geht es immer um diese zwei Ziele: Hochwasserschutz auf der einen, Naturschutz auf der anderen Seite. Auch in Steinsel werden bei der Renaturierung die ökologischen Auswirkungen mitgedacht. Wasserpflanzen im Flussbett sollen die Selbstsäuberung des Wassers fördern. Die flachen Ufer und das Schwemmgebiet rund herum schaffen Lebensraum für Insekten, Vögel und Wassertiere. Eine Win-Win-Lösung, findet Lickes. Auf politischer Ebene ist er mit solchen Vorhaben bisher auf breite Zustimmung gestoßen. Niemand blockiert Renaturierungsvorhaben. Auch in Steinsel hat der Schöffenrat das Projekt einstimmig angenommen. Doch aus der Bevölkerung kommt teils Widerstand – nicht nur wegen der Spielplätze, weiß Lickes. „Wir brauchen rechts und links der Bachbetten Platz. Das heißt, wir müssen mit allen Eigentümern übereinkommen. Das können bis zu hundert Eigentümer sein, und wenn zwei querliegen, kann das Projekt jahrelang in der Schublade landen, obwohl es geplant ist. Schnell wird es erst, wenn ein Hochwasser kommt. Dann sind sie schnell einverstanden. Es tut mir immer weh, zu sehen, dass Leute erst aus Katastrophen lernen.“

Die Renaturierung soll Flüsse widerstandsfähiger machen. In dem breiten Flussbett hat das Wasser mehr Platz, um zu versickern, anstatt in einem Schwung stromabwärts zu stürzen. Über Stunden und Tage steigt der Wasserpegel langsam an, bevor eine Flutwelle kommt. So bleibt Zeit zum Reagieren. Besonders gut funktioniert das bei Flüssen mit großen Einzugsgebieten, weiß Dr. Laurent Pfister, Leiter der Forschungsgruppe Hydrologie am Luxembourg Institute of Science and Technology (List). „Kleine Einzugsgebiete, die noch dazu auf wasserundurchlässigem Untergrund fließen, reagieren sehr nervös. Auf ein Unwetter steigt der Wasserpegel quasi zeitgleich.“ Der Überraschungseffekt, wie bei der Überschwemmung im Müllerthal 2018, lässt kaum Vorbereitungen zu. Auch steile Hänge stärken noch die Kraft der Sturzbäche. Flachere Ufer verhindern, dass Wasser zu schnell abläuft und weiter flussabwärts zu Überschwemmungen führt. Auch die natürliche Geologie spielt jedoch eine Rolle, weiß Pfister. „Am gemächlichsten reagieren Bäche und Flüsse, die durch Sandstein fließen. Sandstein funktioniert wie ein riesiger Schwamm, der das Wasser aufnimmt und zeitlich versetzt abgibt.“ Pfister und sein Forschungsteam können anhand von Wasserproben berechnen, wie lange das Wasser im Boden war – von dem Zeitpunkt an, als es auf die Erde niederschlug bis zum Moment, wenn es aus in Quelle oder dem Gewässer wieder zum Vorschein kommt. „Im Sandstein sind es oft Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte“, sagt Pfister. „Der Sandstein funktioniert als riesiges Reservoir und als Filter. Während das Wasser langsam durch den Sandstein fließt, filtert es sich selbst.“ Andere Gesteine saugen viel weniger Wasser auf. Der Schiefer, der besonders im Ösling die Böden durchzieht, ist weniger durchlässig, Mergelgestein noch weniger. „Die Verweilzeiten dauern einige Stunden, ein paar Tage, höchstens wenige Wochen.“ In den Böden im Gutland wechseln sich Mergelschichten mit Sandstein ab. In den flacheren Gebieten des Müllerthals besteht viel Boden aus Mergel. Dieser spült Regenwasser sofort in den Bach und weg, ohne dem Wasser Zeit zu geben, Düngemittelrückstände und andere Schadstoffe herauszufiltern.

Wo Flüsse in Betonbetten gezwängt und Flächen versiegelt werden, wird dieser Effekt künstlich hervorgerufen. Das Wasser versickert nicht. Schadstoffe werden weitergespült. Flüsse überschwemmen. Pfister sagt: „Vor 50 bis 60 Jahren versuchte man, die Flüsse zu kanalisieren, damit das Wasser möglich schnell abläuft.“ Heute gehen die Bemühungen ins Gegenteil, um zu verhindern, dass alle Wassermassen gleichzeitig an einer Stelle ablaufen. Gleichzeitig nimmt die Wasserqualität zu, je mehr Zeit das Wasser hat, die eigenen Filtermechanismen in Gang zu setzen. In Steinsel sollen die Menschen aber auch im Alltag vom neuen Flusslauf profitieren, und nicht nur im Katastrophenfall. Um die Alzette wird ein Naherholungsgebiet geschaffen, Stege führen über das Feuchtgebiet. Auch ein neuer Spielplatz kommt, „noch schöner als der vorherige“, sagt Marchetti. Doch zunächst müssen sich die Steinseler gedulden.

Franziska Peschel
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