Erneuerbare Energien sollen helfen, dass es in den nächsten Jahrzehnten weiteres Wachstum geben kann

Entkoppelt in die Zukunft

Anfang 2022 begann die Installation von Hochleistungs- Ladesäulen für Elektroautos. Hier auf dem Uni-Campus Kirchberg
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 18.08.2023

Zu den Politikbereichen, über die CSV-Spitzenkandidat Luc Frieden der Regierung vorhält, nicht genug getan zu haben und selber mehr zu tun verspricht, zählen die erneuerbaren Energien. Luxemburg sei „mit nur elf Prozent unter den Schlusslichtern“ der EU, erklärte er am 19. Juni bei der Vorstellung der Wahlkampfprioritäten der CSV. „Wir müssen bis 2030 bei mindestens 30 Prozent ankommen.“

Vermutlich wurde ihm anschließend berichtet, dass die Regierung schon im April einen Vorentwurf für ein Update des nationalen Energie- und Klimaplans (Pnec) veröffentlicht hatte, in dem 35 bis 37 Prozent das Ziel für 2030 sind. Denn Luc Frieden verspricht immer mehr. Im Wahlkampfvideo auf der CSV-Webseite eine Vervierfachung „in den nächsten zehn Jahren“. Und vergangenen Sonntag gegenüber RTL auf die Frage, wie Luxemburg 2030 aussehen soll: „Ech hätt gären e modernt Lëtzebuerg, wat a Fridden, Fräiheet, Sécherheet a Wuelstand lieft. An dat heescht, datt mir e Land brauchen, wou mir eng gutt sozial Kohesioun hunn, wou mir flott Bëscher hunn, wou d’Leit eng gutt Liewensqualitéit hunn, wou mir 70 Prozent erneierbar Energien hunn (...).“

70 Prozent sind im Wahlkampf vielleicht nicht zu toppen. Um so mehr kann erstaunen, dass die CSV sich in ihrem Wahlprogramm, das Anfang dieser Woche endlich vollständig publik wurde, nicht festlegt. Auf Seite 55 heißt es nur: „Die CSV setzt sich konsequent für den Ausbau erneuerbarer Energien ein. Wir wollen die vereinbarten EU-Ziele möglichst schnell erreichen.“ Der Widerspruch zu den Proklamationen ihres Spitzenkandidaten ist schade. Er dürfte aber helfen, die Koalitionsfähigkeit der Partei zu maximieren.

Hinzu kommt jedoch, dass ein hohes Ziel für erneuerbare Energien sich leichter versprechen als tatsächlich erreichen lässt. Das Problem beginnt damit, dass ihr Anteil auf den Gesamt-Energieverbrauch bezogen wird. Nicht etwa nur auf den Stromverbrauch, woran Solarpanele und Windräder denken lassen könnten. Der Gesamtverbrauch ist hoch hierzulande: 2021 lag er bei rund 48 000 Gigawattstunden. Davon entfielen fast 30 000 auf Petrolprodukte. Von diesen wurden zwei Drittel im „Transport“ in Form von Diesel und Benzin verbraucht. Drei Viertel davon wiederum (15 000 GWh) entfielen auf den „Tanktourismus“.

Der Tanktourismus macht demnach 30 Prozent vom Gesamt-Energieverbrauch aus. Er ist nicht nur der größte Einzelposten in der Luxemburger CO2-Bilanz. Er ist auch der Elefant im Raum, wenn in der Statistik der Anteil der erneuerbaren Energien steigen soll. Ganz exakt lag er 2021 bei 11,7 Prozent, das geht aus dem letzten Bericht von Eurostat zur grünen Energie hervor. So sehr das nach „Schlusslicht“ aussieht, sind 11,7 Prozent nicht wenig, wenn der Gesamtverbrauch hoch ist. 2021 kamen sie mit 5 616 Gigawattstunden fast dem Verbrauch der Haushalte gleich (5 900 GWh). Die rund 15 000 Gigawattstunden wiederum, die sich dem Tanktourismus zurechnen ließen, waren höher als der Energieverbrauch von Industrie (7 390 GWh) und Tertiärsektor (6 673 GWh) zusammen.

Wer daran etwas grundsätzlich ändern will, braucht eine Energiestrategie. Der Plan national intégré en matière d’énergie et du climat ist eine solche. Ihre erste Version gilt seit Mai 2020. Den endgültigen Entwurf zur Aktualisierung nahm der Regierungsrat am 21. Juli an, nachdem es eine öffentliche Konsultation gegeben hatte. Luxemburgs CO2-Emissionen sollen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 2005 reduziert werden; so steht es schon im ersten Pnec von 2020. Der Gesamt-Energieverbrauch soll gegenüber einer Referenz aus dem Jahr 2007 um 44 Prozent sinken; im ersten Plan sollten es noch 40 bis 44 Prozent sein. Das Ziel für die erneuerbaren Energien wurde von 25 Prozent auf 35 bis 37 Prozent angehoben.

Der Energieverbrauch ist dabei ein wichtiges verbindendes Element zum CO2 und den erneuerbaren Energien: Der zurzeit nur zu 11,7 Prozent aus erneuerbaren Quellen gedeckte Gesamtverbrauch ist stark CO2-lastig. Wird dieser Verbrauch gesenkt, sinken die Emissionen mit. Der Anteil der erneuerbaren Energien wiederum steigt, selbst wenn nichts hinzugebaut würde. Falls alles nach dem aktualisierten Plan läuft, läge 2030 der Gesamt-Energieverbrauch Luxemburgs nur noch bei höchstens 35 430 Gigawattstunden. Knapp 13 000 weniger als die 48 000 Gigawattstunden im Jahr 2021 demnach. Oder wenn man so will, mit einem von 15 000 auf nur 2 500 Gigawattstunden reduzierten Tanktourismus-Anteil.

Dem Tanktourismus und wie er sich entwickeln könnte, widmete das Statec eine Analyse. Unter den 201 Maßnahmen, die das Pnec-Update als Wege zum Ziel enthält und die sich auf die Bereiche Transport, Gebäude, Industrie, Landwirtschaft sowie Abwasser- und Abfallbehandlung erstrecken, sind einige, die noch nicht bekannt waren, als der erste Plan aufgestellt wurde. Im Transport etwa das für die EU beschlossene Verbot der Neuzulassung von Verbrenner-PKW ab 2035. Die Entscheidung der Luxemburger Regierung, die CO2-Steuer nicht bei aktuell 30 Euro pro Tonne belassen zu wollen, sondern der nächsten Regierung politisch vorzugreifen und im Pnec festzuhalten, dass sie jedes Jahr um fünf Euro steigen soll, ist ein weiteres Beispiel.

Modellierungen des Statec gehen davon aus, dass die Treibstoffverkäufe an Nicht-Ansässige von 1 350 Millionen Liter im Jahr 2020 auf 1 000 Millionen im Jahr 2030 sinken könnten. Das sieht nach nicht viel aus, doch das Corona-Jahr 2020 mit seinen Einschränkungen ist wahrscheinlich nicht der beste Bezugspunkt. 2015 wurden im Tanktourismus 2 300 Millionen Liter abgesetzt. Was genau sich bis Ende dieses Jahrzehnts ändern wird, ist laut Statec schwer zu prognostizieren. Es werde stark davon abhängen, welche CO2-Besteuerung die Nachbarländer einführen. Das Tempo, mit dem Verbrenner-PKW durch elektrische ersetzt werden, Diesel-LKW durch mit Batterie oder Wasserstoff betriebene, spiele auch eine Rolle. Die Frage, was Luxemburg politisch will, wird sich ebenfalls stellen: Würden die Endpreise pro Liter Sprit hierzulande 15 bis 20 Cent über denen der Nachbarländer liegen, wäre mit dem Tanktourismus sicherlich Schluss. Mit den Akziseneinnahmen für die Staatskasse aus diesem Geschäft natürlich auch.

Obwohl um den Tanktourismus so viel Unsicherheit besteht, soll die Senkung des Gesamtverbrauchs um knapp 13 000 Gigawattstunden zwischen 2021 und 2030 dennoch durch allein 10 000 Gigawattstunden weniger im Transport erreicht werden. Die Erwartungen an die Dekarbonisierung der Luxemburger Fahrzeugflotte werden umso höher. Die Anforderungen an die Infrastruktur ebenfalls: Der Investitionsbedarf, der mit dem Update zusätzlich entsteht, wird im Pnec-Entwurf auf 8,44 Milliarden Euro bis 2030 veranschlagt. Mit 5,02 Milliarden fiele der größte Teil im Transport an, zum Beispiel für den Ausbau der Ladeinfrastruktur. Die Zahl der Ladepunkte (ob daheim als Wallbox oder als öffentliche Säule) werde „proportional“ mit den neu zugelassenen Elektroautos wachsen müssen.

Das Statec schätzt, dass 2030 jeder zweite neu zugelassene PKW ein E-Auto sein wird. Klappt das, bedeutet das nicht nur weniger CO2 in der Bilanz. Wegen des höheren Wirkungsgrads von Elektro- gegenüber Verbrennerantrieben soll die Elektrifizierung auch erlauben, dass der Fahrzeugbestand wächst und der Trend sich vom Energieverbrauch entkoppelt.

Das ist eine Prämisse im Pnec: Er soll Wachstum ermöglichen. Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Einwohnerzahl sollen zunehmen können, aber entkoppelt von CO2-Emissionen und Energieverbrauch. Für das Pnec-Update wurde angenommen, dass das BIP zwischen 2005 und 2030 um 87 Prozent zugenommen haben wird, die ansässige Bevölkerung um 63 Prozent. 2050, wenn „Klimaneutralität“ erreicht sein soll, läge das BIP 222 Prozent über dem von 2005, die Einwohnerzahl um 117 Prozent. Um beim Transport zu bleiben: Mit der Bevölkerung könnte auch die Zahl der jährlich neu zugelassenen Autos wachsen: von knapp 40 000 im Jahr 2022 auf 55 000 in 2030 und 70 000 im Jahr 2050. Der dann größere PKW-Bestand wäre aber, weil elektrisch, drei Mal effizienter und dieselbe Fahrleistung würde mit drei Mal weniger Energieaufwand erbracht, so das Statec.

Das Konzept der Entkopplung findet sich in allen fünf Sektoren wieder, die der Pnec beschreibt. Ermöglicht werden soll sie in erster Linie durch einen „fuel switch“ hin zu erneuerbaren Quellen: grünem Strom, grünem Wasserstoff, Biogas, Holzhackschnitzeln sowie Biofuel, das traditionellem Sprit beigemischt wird. Die 37 Prozent, die das Ziel für 2030 sind, gelten insgesamt über die drei Bereiche Elektrizität, Wärme und Transporttreibstoffe. Der Bedarf an Strom soll 2030 zu 37,3 Prozent erneuerbar gedeckt werden, der Wärmebedarf zu 40,3 Prozent. Traditioneller Sprit enthielte 18 Prozent Biofuel.

Bei näherem Hinschauen fällt auf, dass die Entwicklung des Luxemburger Strombedarfs im ersten Energie- und Klimaplan unterschätzt wurde. 2020 wurde er für Ende des Jahrzehnts auf 6 700 Gigawattstunden veranschlagt – kaum höher als der Verbrauch der letzten Jahre, der um 6 500 Gigawattstunden oszillierte. Das Pnec-Update geht von 8 100 Gigawattstunden Bedarf im Jahr 2030 aus, wegen der Wachstumserwartungen, den Bemühungen, Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen zu ersetzen, und um durch Elektrifizierung die Dekarbonisierung von Prozessen in der Industrie zu ermöglichen (was Strom nicht leisten könnte, würde ab etwa 2035 Wasserstoff übernehmen).

Konsequenterweise muss die heimische Produktion grünen Stroms beträchlich wachsen. 960 Gigawattstunden wurden 2021 erzeugt. Der erste Pnec wollte das bis 2030 auf 2 200 Gigawattstunden mehr als verdoppeln, das Update sieht nun 3 000 vor. Leicht zu erreichen wird das nicht sein. Dass der Solarstromanteil sich weiter steigern lässt als 2020 angenommen, glaubt das Energieministerium nicht, und selbst die für 2030 angenommenen 1 100 Gigawattstunden aus Fotovoltaik wären sieben Mal mehr als die Ausbeute von 2021. Spielraum nach oben soll es bei der Windkraft geben: Der Pnec von 2020 hatte mit 674 Gigawattstunden für 2030 gerechnet, das Update geht von 1 000 aus. Wobei es jedoch kaum neue Windkraftstandorte gebe, höhere Ausbeute lasse sich durch „Repowering“ existierender Anlagen auf mehr Anschlussleistung und besseren Wirkungsgrad erreichen. Danach sei Schluss.

Weil andere Quellen, wie heimische Wasserkraft oder Blockheizkraftwerke mit Holzhackschnitzelfeuerung, keine großen Sprünge erlauben, setzt die Regierung im Pnec-Update auf zusätzlichen grünen Strom aus Europa. Die EU erlaubt zum Beispiel statistische Transfers von in einem Mitgliedstaat über dessen Jahresziel hinaus produzierter erneuerbarer Energie an einen anderen. 2020 hatte Luxemburg auf diesem Weg 650 Gigawattstunden aus Litauen und Estland eingekauft. Bis 2025 besteht ein ähnliches Abkommen mit Dänemark. Gespräche für Vereinbarungen laufen mit Portugal, Estland und Litauen. In Finnland wiederum hat Luxemburg sich über eine Ausschreibung an der Finanzierung einer Stromproduktionsanlage beteiligt (der Pnec erläutert nicht, was für eine). Dadurch gehen 80 Prozent ihrer Produktion statistisch ans Großherzogtum.

Alles in allem wird Luxemburg 2030 nur dank der Kooperationsmechanismen 37 Prozent erneuerbare Energien am Gesamtverbrauch erreichen können. Im Land selbst wären es nur 26,1 Prozent. Besonders weit soll die Kooperation im Strombereich gehen: Der Bedarf dort soll, durch Kooperations-Lieferungen aufgestockt, 2030 zu 60 Prozent erneuerbar gedeckt werden.

Vielleicht hatte Luc Frieden daran gedacht, als er sich vergangenen Sonntag gegenüber RTL zu den erneuerbaren Energien äußerte. Und zehn Prozentpunkte draufgeschlagen, weil Wahlkampf herrscht. Wahrscheinlich aber wird dem neuen Eneergie- und Klimaplan auch die CSV zustimmen können. Er ist marktkonform, setzt auf Technologien und soll Wachstum ermöglichen. Und für die Bürger/innen enthält er statt Gebote Beilhilfen, von Verboten gar nicht zu reden.

Peter Feist
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