ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Präzedenzfall

d'Lëtzebuerger Land vom 28.07.2023

Nächsten Monat soll eine Indexanpassung der Löhne an die Preissteigerung fällig werden. Sie müsste im September ausgezahlt werden. Das wäre die zweite beziehungsweise dritte für dieses Jahr. Seit 1984 gilt unausgesprochen, dass die Unternehmen höchstens eine Indextranche jährlich zahlen sollen.

Eine Indexmanipulation einen Monat vor den Kammerwahlen wäre politisch riskant. Deshalb bot die Regierung im März der Tripartite an: Der Staat kompensiert fünf Monate lang die Kosten der Indextranche.

Einen Tag vor dem Sommerurlaub verabschiedete das Parlament die Indexregelung. Mit 57 von 60 Stimmen. Die Abgeordneten räumten ein, dass sie den Kompensierungsmechanismus nicht verstanden haben.

Die Verstaatlichung der Indextranche geschieht mittels der Mutualité des employeurs. Die Gegenseitigskeits-versicherung wurde 2008 geschaffen. Als mit dem Einheitsstatut die Benachteiligung der Arbeiter bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgeschafft wurde. Ihr Budget plant für dieses Jahr 134 Millionen Euro staatliche Zuschüsse. Nun kommen weitere hinzu.

Ab 1. Januar werden die nach der Gesundheitsschädlichkeit der Betriebe gestaffelten Beiträge zur Mutualité für ein bis drei Jahre gesenkt. Auch jener Betriebe, deren Indextranchen ohnehin von der öffentlichen Hand übernommen werden. Sie sollen das Geld später über Behörden und Krankenversicherung zurückerstatten. Sie wären dumm, wenn sie es täten. Denn davon steht kein Wort im Gesetz.

Die Salariatskammer rechnet in ihrem Gutachten vor, dass fünf Monate Indextranche Mehrkosten von 12,5 Prozent der Lohnmasse bereiten. Die Beitragssenkung in den Risikoklassen zwei und drei mache 16,5 Prozent der beitragspflichtigen Lohnmasse aus. Die Berufskammer fragt in ihrem Gutachten die Allgemeinheit: „[F]inira-t-elle par surcompenser le coût de la tranche indiciaire [?]“ (S. 3) Nimmt die Lohnmasse zu, steigen die Kosten für den Staat. Dann muss das Gesetz geändert werden.

Um Waren und Dienstleistungen herstellen zu können, kaufen Unternehmen Arbeitskraft. Beschleunigt sich die Inflation, erhöhen sie den Preis ihrer Waren und Dienstleistungen. Sie müssten auch den Preis ihrer Arbeitskraft erhöhen. Dank des staatlichen Zuschusses machen sie fünf Monate lang einen Extraprofit: Aus der Differenz zwischen höheren Verkaufspreisen und unveränderten Lohnkosten. Die „Fiche financière“ des Gesetzentwurfs beziffert die Verstaatlichung der Indextranche auf 340,6 Millionen Euro. Das entspricht dem Extraprofit.

Die Verstaatlichung von Lohnkosten privater Firmen ist nicht neu. Seit Jahrzehnten übernimmt der Staat Lohnbestandteile. Etwa bei der Einstellung von Leuten, die ihre Arbeitskraft unter dem Wert verkaufen sollen. 2019 verstaatlichte er zwei Drittel einer Mindestlohnerhöhung mittels eines Steuerkredits. 2022 schob er die fällige Indextranche auf und ersetzte sie durch einen Steuerkredit für niedrige Einkommen.

Präzedenzfall ist, dass der Staat nicht nur Lohnbestandteile von Arbeitslosen, Behinderten, Mindestlohnbeziehern oder Niedrigverdienern bezahlt. Sondern dass er dies für alle Lohnabhängigen tut. Und für alle Unternehmen: Auch für die BGL und die Sparkasse. Sie meldeten gerade eine halbe Milliarde Euro Profite. Auch für die Bauträger. Deren Profite sich laut Autorité de la concurrence binnen eines Jahrzehnts verachtfachten. Auch für Amazon mit 3,2 Milliarden Dollar Profit binnen drei Monaten. Das ist das Gegenteil der sozialen Selektivität, die Sparpolitiker, Lobbyisten und Leitartikler sonst vom Index verlangen.

Die Handelskammer befürchtet in ihrem Gutachten, „qu’il sera difficile pour l’État de compenser de la sorte de futures tranches indiciaires de manière récurrente“ (S. 5). Der Präzedenzfall stellt den Staat vor eine große Herausforderung: Wie überzeugt er die Unternehmen, jemals wieder Lohnanpassungen aus der eigenen Tasche zu bezahlen?

Romain Hilgert
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