Die Politikwissenschaftlerin Anna-Lena Högenauer über Rechtspopulisten im EU-Parlament, eine verfehlte EU-Wahlkampagne und mangelnde EU-Kompetenz im nationalen Parlament

„Der Umgang mit Krisen dürfte schwieriger werden“

Anna-Lena Högenauer ist Professorin an  der Universität Luxemburg
Foto: Anna-Lena Högenauer
d'Lëtzebuerger Land vom 14.06.2024

D’Land: Wie analysieren Sie das Wahlergebnis, liegt ein „Rechtsruck“ vor, oder befinden wir uns in einem bereits seit Jahren stattfindenden Trend nach rechts?

Anna-Lena Högenauer: Der Trend nach rechts, der sich über mehrere Jahre und Wahlen abzeichnet, hat sich ganz klar fortgesetzt. Das Wort Ruck wird ein bisschen inflationär verwendet. Letztes Jahr bei den Kammerwahlen hat es in Luxemburg kaum eine Verschiebung nach rechts gegeben und es wurde trotzdem von einem „Ruck“ gesprochen. Auf der europäischen Ebene fällt der Trend etwas deutlicher aus. Dabei nicht immer so ausgeprägt, wie angekündigt: Zum Beispiel lag die AFD in Deutschland in Umfragen Anfang 2024 bei 23 Prozent und bekam nun 16 Prozent. Und auch ADR-Spitzenkandidat Fernand Kartheiser sammelte weniger Stimmen als Gast Gibéryen 2019. Kartheiser verbuchte letzten Sonntag 38 000 Stimmen, während Gibéryen bei den EU-Wahlen vor fünf Jahren 43 092 Stimmen einfuhr.

Eine gewählte Person von sieben ist noch nicht Teil einer EU-Fraktion. Wird es zu größeren Verschiebungen kommen innerhalb der Nicht-Affiliierten, der ECR und der ID? Wird die Neufindung unter Rechtspopulisten hauptsächlich entlang der Position des Ukrainekriegs stattfinden, da hier die größten Divergenzen unter Rechtspopulisten bestehen?

Ja, es sieht so aus, dass sich der rechte Block noch mal neu formiert in Parteien, die bei der Regierungsbildung mitbestimmen wollen, und die dafür Wähler der Mitte anziehen wollen, wie in Italien Meloni oder Le Pen in Frankreich. Die deutsche AFD hingegen ist von der Mitte weiter abgedriftet, durch den Gebrauch von Nazi-Sprüchen, die Verharmlosung des Nationalsozialismus oder das Liebäugeln mancher Politiker mit Remigration und Wiederausbürgerung sowie die Unterwanderung durch China und Russland. Darüber hinaus spielt der Ukrainekrieg natürlich eine große Rolle. Meloni behauptet, dass Italiens Interessen für sie mit Europa verbunden sind, deshalb hat sie eine eindeutige Position gegenüber dem Kreml. Die AFD, aber auch die luxemburgische ADR, liegen hier nicht mit Meloni auf einer Linie.

Könnte es nun zu einer Verschmelzung von ID- und ECR-Parteien kommen? Denn die ID versucht sich durch den rezenten Ausschluss der AFD einen moderateren Anstrich zu verleihen?

Ich denke, dass es bei zwei rechten Blöcken bleibt – möglicherweise mit neuen Namen und größeren Veränderungen in der Mitgliedschaft. Die moderatere, trotzdem sehr rechte, Meloni und in Zukunft vielleicht Le Pen, werden mit einer gemäßigteren Sprache versuchen zu zeigen, dass sie regierungsfähig sind. Bisher waren die rechten Gruppen im Europäischen Parlament relativ divers. Es herrschte wenig Parteizwang, zum Beispiel bei Abstimmungen, aber ich habe den Eindruck, dass Meloni und auch Le Pen sich schlagkräftiger aufstellen wollen und auf mehr Parteidisziplin pochen werden. Möglicherweise könnten sie rote Linien ziehen, dann wird sich die ADR einordnen müssen – vermutlich muss die ADR offenlegen, ob sie weiterhin dafür ist, mit Russland Geschäfte zu machen.

Der Ukrainekrieg entzweit die Parteien rechts der EVP. Aber welche Themen vereint die Rechtspopulisten der EU? Muslimenfeindlichkeit und Elitenkritik?

Ja, der rechte Block vereint Elitenkritik und Muslimenfeindlichkeit. Aber auch die Verteidigung eines traditionellen Familienbildes sowie die Ablehnung von gendergerechter Sprache und einschneidender Umweltpolitik. Sie teilen also durchaus Gemeinsamkeiten.

Das Bündnis Sarah Wagenknecht hat in Deutschland sechs Prozent errungen. Das Profil der Partei ist nicht eindeutig in ein links-rechts Spektrum einzuordnen.

Eigentlich kommt das Bündnis Sarah Wagenknecht aus dem linken Spektrum, übernimmt aber auch rechte Themen bei Migrationsfragen oder in puncto Russlandfreundlichkeit. Deshalb ist noch nicht klar, ob es sich links oder rechts einordnen wird. Im Allgemeinen werden noch ein paar Veränderungen erwartet; vor allem was die Größe der politischen Gruppen betrifft: Allein für Deutschland ziehen neben der AFD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht noch weitere Parteien ein, wie Volt und die Tierschutzpartei, die noch keiner Gruppierung angehören. Bisher haben sich rund 100 Abgeordnete noch keiner Fraktion angeschlossen, und zumindest ein Teil davon wird sich eine Gruppe suchen.

Die CSV wird sich in der neuen EVP eher im linken Flügel wiederfinden?

Bei gewissen Fragen zumindest, zum Beispiel in der Migrationspolitik. Es wird sich für die CSV vermutlich wenig ändern, weil es so aussieht, dass die Koalition mit den Sozialdemokraten und Liberalen bestehen bleibt, möglicherweise auch den Grünen. Allerdings könnte es schwer werden, die Grünen glaubhaft in eine Koalition einzubinden, denn sie haben 14 Sitze verloren und liegen nun bei 53 Sitzen insgesamt.

Nicht nur die Opposition hat sich nach rechts verschoben, auch der Ministerrat …

Ja, das ist die andere Herausforderung. Der Ministerrat und der Europäische Rat haben sich nach rechts bewegt, weil immer mehr Regierungen eine rechtspopulistische Beteiligung haben, wie unlängst in Holland passiert und vielleicht bald in Frankreich. Das bedeutet in der Praxis, dass der Kommissionspräsident oder die Kommissionspräsidentin bei der Koalitionsbildung keine weitreichenden Zugeständnisse in Richtung der Grünen machen kann. Beziehungsweise, man kann alle möglichen Zugeständnisse machen – nur halten kann man sie dann später nicht, weil man bei der Gesetzgebung die Zustimmung des Ministerrats braucht. Die Kompromisse werden konservativer ausfallen, als das in den letzten fünf Jahren der Fall war. Darüber hinaus hat man vor den Wahlen bereits eine Verschiebung nach rechts beim Migrationspakt und dem Green Deal vernommen. Und man sieht ja in Deutschland, dass sich dort sogar eine linksgrüne, liberale Regierung in der Migrationsfrage konservativer positioniert, weil ein erheblicher öffentlicher Druck besteht. Die Tatsache, dass die Sozialisten und die Grünen im Moment nur in wenigen Regierungen vertreten sind, schränkt die Handlungsfähigkeit dieser EU-Fraktionen ein.

Rechtspopulisten wollen zudem die transnationale Zusammenarbeit bremsen.

Was die Bankenunion betrifft, wird es schwieriger werden, mehr Integration zu erzielen. Auch der Umgang mit Krisen dürfte schwieriger werden. Umverteilungsinitiativen wie bei der Corona-Krise werden künftig gebremst oder verunmöglicht.

Sie haben, sozusagen, eine EU-kritische Seite, denn Sie schreiben in ihren Publikationen, dass es tatsächlich Demokratiedefizite gibt. Woran machen Sie das fest – unter anderem weil nationales Parlament und EU-Parlament besser zusammenarbeiten müssten? Und weil die Wähler/innen nicht nah an der EU-Politik dran sind?

Die Schuld liegt nicht bei der EU, sondern das Problem ist, dass die Wähler näher an der nationalen Politik stehen und mehr über nationale Politik berichtet wird. Das erkennt man auch daran, dass die Beteiligung bei den nationalen Wahlen deutlich höher ausfällt. Und für das EU-Parlament ist das ein Problem, denn dadurch wird die demokratische Legitimation für das Europäische Parlament schwächer. Der Ministerrat soll die Brücke bilden zwischen nationalem und europäischem Parlament, aber das setzt voraus, dass die nationalen Parlamente die Arbeit ihrer Regierungen im Ministerrat kontrollieren. Das funktioniert jedoch nicht so gut, weil die nationalen Parlamente die nötigen Kapazitäten nicht haben. Sie haben auch nicht den Zugang zu den Informationen, die sie brauchen. Dadurch ergibt sich ein gewisses Demokratiedefizit. Und gerade Parlamente, wie das luxemburgische, die wenige Abgeordnete haben, haben Probleme genügend Leute zu finden, die sich zuvorderst auf die EU konzentrieren können. Die Medien müssten ihrerseits vermehrt über große Gesetzesprojekte berichten, damit die Bürger wissen, was in der EU passiert und wie sich die CSV, DP, Grüne, ADR und LSAP dazu positionieren.

Könnten auch transeuropäische Bürgerräte eine Brücke zwischen Wähler/innen und EU-Parlament bilden?

Es gab Versuche, Bürger mehr einzubeziehen, beispielsweise über die Konferenz zur Zukunft Europas, aber die waren nur begrenzt erfolgreich, weil EU-Politik oft auf einer sehr allgemeinen Ebene diskutiert wurde. Auch in diesem Wahlkampf war das der Fall. Nicht nur in Luxemburg, auch in Deutschland und den andern EU-Ländern: Der EU-Wahlkampf begrenzt sich zumeist auf ein paar Schlagwörter. Das ist nicht sehr informativ für die Bürger.

Weil die Details sehr technisch sind?

Die Parteien vermeiden zu vermitteln, was sie eigentlich fünf Jahre lang gemacht haben, vielleicht weil sie ihre Dossiers für zu technisch halten. Der Wahlkampf in Luxemburg wurde auf sechs Gesichter auf Plakaten reduziert, aber die Parteien sind in der Verantwortung zu erklären, was sie machen und warum. Die nationale Politik ist schließlich nicht weniger kompliziert: Die anstehende Rentenreform, die Steuerreform oder die Wohnungskrise – diese Probleme sind alle hochkomplex und wir diskutieren trotzdem darüber. Bei EU-Dossiers sollte das auch der Fall sein.

Irgendwie schaffen es EU-Abgordnete nicht, ihre Arbeit, die sie in Straßburg und Brüssel erledigen, zu kommunizieren …

Dabei sollte das den luxemburgischen Abgeordneten nicht allzu schwerfallen, denn sie waren in den letzten fünf Jahren sehr aktiv. Fünf von sechs Abgeordneten galten in ihren Politikfeldern als sehr einflussreich. 2024 haben es laut dem „Influence Index“ sogar drei von sechs unter die 100 einflussreichsten Abgeordneten im Europäischen Parlament geschafft: Isabel Wiseler-Lima (Platz 12), Marc Angel (22) und Charles Goerens (66). Und 2023 war Christophe Hansen der einflussreichste luxemburgische Abgeordnete, bevor er in das luxemburgische Parlament wechselte. Diese Erfolge sind hart erarbeitet – durch Schlüsselrollen in der Koordination von Gesetzestexten, Networking und Führungspositionen.

Zum einen wird häufig eine gewisse Distanz zur EU-Politik festgestellt, zum anderen muss man sagen, die Wahlbeteiligung lag dieses Jahr so hoch wie seit 1994 nicht mehr.

In den Medien wurde öfters verkündet, die Wahlbeteiligung sei außerordentlich hoch gewesen, für manche Regionen stimmt das auch. Aber beim Panoromablick zeigt sich, dass die Wahlbeteiligung europaweit nur minimal höher ausfiel. Sie lag bei 54,1 Prozent, während sie 2019 50,6 Prozent erreichte.

In der Tagespresse wurde bereits spekuliert, ob Nicolas Schmit oder Christophe Hansen Kommissar wird. Würden Sie sagen, es steht fifty-fifty?

Ja, ich würde sagen, es steht grob fifty-fifty. Schmit hat den Vorteil, dass ein Sozialist Vizekommissionpräsident werden könnte, und die europäischen Sozialisten könnten auf ihn bestehen. Aber die Luxemburger Sozialisten haben ja nur einen Abgeordneten. Und die anderen sozialistischen Parteien haben ebenfalls Leute, denen sie Ämter verschaffen wollen. Portugal möchte zum Beispiel den Posten des Präsidenten des Europäischen Rats. Da kann es gut sein, dass die Sozialisten ihren Spitzenkandidaten Nicolas Schmit opfern, weil ihnen andere Posten für andere Länder wichtiger sind. 2019 hat die EVP ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber relativ schnell fallengelassen, weil andere EVP-Politiker mehrheitsfähiger waren.

Und Christophe Hansen hat auf nationaler Ebene mehr Rückhalt …

Der Vorteil für Christophe Hansen ist, dass bei der Ämterverteilung nach den nationalen Wahlen beschlossen wurde, dass Christophe Hansen Kommissar für Luxemburg wird. Die luxemburgische Regierung hätte bei einem Wahlsieg der Sozialisten vermutlich den Weg frei gemacht für Schmit, aber das ist nicht der Fall. Das Argument, dass auch den Spitzenkandidaten der Wahlverlierer Spitzenposten in der Kommission zustehen, hatte Martin Schulz schon 2014 vorgebracht – und wurde von Deutschland trotzdem nicht für die Kommission nominiert. Ein weiterer Vorteil für Christophe Hansen ist, dass Nicolas Schmit auf keinem Wahlzettel stand. Hansen hingegen hat sich zur Wahl aufgestellt. Deshalb kann jetzt die CSV darauf verweisen, dass Christophe Hansen der meistgewählte Kandidat der größten Partei ist und das gibt ihm eine gewisse demokratische Legitimität. Das Rennen ist noch nicht vorbei, aber es wird nicht leicht für Nicolas Schmit, zumal das Recht, einen Kommissar vorzuschlagen, klar bei der Regierung liegt.

Stéphanie Majerus
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