Bei den Europawahlen am Sonntag hatten die Wähler nichts zu entscheiden: Der Wahlkampf bot keine Optionen. Sie hatten keine Handhabe: Die sechs Abgeordneten aus Lu-
xemburg machen nicht einmal ein Prozent des Europaparlaments aus. Dieses hat die Vorrechte der Luxemburger Ständeversammlung von 1841.
Legitimation Vielleicht dienen Wahlen nicht der Entscheidungsfindung. Sondern der Legitimation von Herrschaft. Die Europawahlen sollen die Politik der Europäischen Union legitimieren: Die Entscheidungen des Rats, der Kommission, der Zentralbank, des Gerichtshofs, der Frontex.
Die Parteien und Leitartikler nannten den Wahlgang wieder eine „Schicksalswahl“. Die Union hat Schwierigkeiten, den Konsens für ihre Politik zu wahren. Die Schwachen wissen: Das „starke Europa“ der Wahlplakate meinte das Recht des Stärkeren. Die Europäische Union rüstet ökonomisch, militärisch gegen den Rest der Welt. Sie verspricht den „freien und unverfälschten Markt“, Haushaltsdisziplin, Wettbewerbsfähigkeit, strategische Autonomie. Der Preis sind immer mehr Ertrunkene im Mittelmeer, immer mehr Hungrige in den Fußgängerzonen, immer mehr Faschisten in Straßburg.
„C’est bien la classe sociale qui détermine le vote, à condition toutefois d’envisager cette dernière dans une perspective multidimensionnelle“, schreiben Julia Cagé und Thomas Piketty in Une histoire du conflit politique (Paris 2023, S. 844). Der Arbeiteranteil an der Viandener Bevölkerung ist fünfmal höher als in Weiler zum Turm. In Niederanven ist der Medianlohn doppelt so hoch wie in Wiltz.
Die Wechselbeziehungen zwischen der sozialen Lage in den 100 Gemeinden und den lokalen Stimmenanteilen der Parteien lassen sich berechnen: als Pearson-Koeffizient auf einer Skala von +1,00 (völlig übereinstimmend) über null (kein Zusammenhang) bis –1,00 (völlig entgegengesetzt). Die Zahlen geben Cagé und Piketty recht. Auch für die Europawahlen vom Sonntag.
Bürgerlicher Block Die CSV schnitt in bevölkerungsreicheren Gemeinden schlechter ab (–0,28). Sie wurde besser in kleineren, ländlicheren Gemeinden gewählt. Wo mehr Leute mit Abitur als Schulabschluss wohnen (+0,33). Sie wurde weniger in Arbeiterstädten (–0,23) gewählt, weniger in Gemeinden, wo viele Leute mit Grundschulabschluss (–0,31), viele Arbeitslose (–0,27) wohnen. Die konservative Partei verspricht Angestellten, Beamten, Selbständigen, LCGB-Arbeiterinnen, Bauern, nur so viel zu ändern, dass alles beim Alten bleibt. Seit anderthalb Jahren ist sie mehr Wirtschafts-, weniger Volkspartei. Gegenüber den Parlamentswahlen vom Oktober verlor sie 6,9 Prozentpunkte an Stimmen.
Im rechten Teil des bürgerlichen Blocks wollte Fokus die liberalere, modernere Variante neben der CSV sein. Die Partei von Ex-CSV-Präsident Frank Engel vertritt Nörgler aus anderen Parteien. Keine Wählergruppen – die Wahlergebnisse von Fokus wiesen als einzige keine sozialen Korrelationen auf. Gegenüber den Kammerwahlen fiel Fokus von 2,6 auf 1,6 Prozent der Stimmen.
DP und Grüne bildeten den liberalen Teil des bürgerlichen Blocks: Beide erhielten ihre höchsten Stimmenanteile weitgehend in den gleichen Gemeinden (+0,55). Sie wurden am besten gewählt in Gemeinden mit hohem Medianlohn (+0,49 bzw. +0,72), mit vielen Akademikern (+0,57 bzw. +0,74). Mit wenigen Arbeiterinnen (–0,37 bzw. –0,60), wenigen Arbeitslosen (–0,38 bzw. –0,42), wenigen Revis-Berechtigten (–0,42 bzw. –0,51).
DP und Grüne sind wirtschaftsliberal und gesellschaftspolitisch aufgeschlossen. Die einen vertreten ein altes, die anderen ein neues Kleinbürgertum von Selbständigen und gehobenen Beamtinnen, leitenden Angestellten. Gegenüber den Kammerwahlen verlor die regierende DP leicht an Stimmen (–0,9 Prozentpunkte). Die oppositionellen Grünen erholten sich von ihrem Wahldebakel (+3,5 Prozentpunkte).
Linksblock Bei aller Verbürgerlichung der Parteiführung und allen Zugeständnissen an den Liberalismus blieb die Wählerschaft der LSAP populär. Die Sozialdemokratie verspricht die Verteidigung des Sozialstaats. Sie schnitt am besten ab in Gemeinden mit niedrigerem Medianlohn (–0,27), mehr Arbeitern (+0,32), mehr Leuten mit Grundschulabschluss (+0,50), mehr Arbeitslosen (+0,44). Gegenüber den Kammerwahlen gewann die LSAP 3,6 Prozentpunkte. Ihre Wahlergebnisse waren denjenigen des bürgerlichen Blocks von CSV, DP und Grünen entgegengesetzt (–0,63, –0,58 bzw. –0,24).
Die LSAP zählt zum Linksblock. Er ist historisch mit der Arbeiterbewegung verbunden. Daneben trugen déi Lénk und Kommunisten 4,1 Prozent Stimmen zum Linksblock bei. Die KPL gewann gegenüber Oktober 0,4 Prozentpunkte, déi Lénk verlor 0,5 Prozentpunkte. KPL und Lénk schnitten am besten ab in Gemeinden mit vielen Arbeiterinnen (+0,58 bzw. +0,32), vielen Leuten mit Grundschulabschluss (+0,65 bzw. +0,41), mit niedrigem Medianlohn (–0,52 bzw. –0,23), mehr Arbeitslosen (+0,69 bzw. +0,51), mehr Revis-Berechtigten (+0,52 bzw. +0,27). Die Kommunisten erschienen proletarischer, déi Lénk kleinbürgerlicher.
Rechtsblock Die ADR war die stärkste Partei des demagogischen Rechtsblocks. Seit zwölf Jahren passt sie das autoritäre, identitäre Weltbild der europäischen Rechtsradikalen an das Kräfteverhältnis in Luxemburg an. Nun helfen ihr die Gloden, Lies, Beissel. Wie die CSV wurde die ADR besser in kleineren, ländlicheren Gemeinden gewählt (–0,23). Anders als die CSV wurde sie besser in Gemeinden mit niedrigen Medianeinkommen (–0,50) gewählt, in Arbeitergemeinden (+0,28), in Gemeinden wo viele Leute mit Abitur, Berufsdiplom, 5e oder 9e wohnen (+0,59). Gegenüber den Kammerwahlen erhielt sie 2,2 Prozentpunkte mehr Stimmen.
Die von der ADR abgespaltenen Konservativen boten eine chauvinistische Variante im Rechtsblock an. Die aus den Impfprotesten entstandene Mir d’Vollek war die verschwörerische Variante. Beide Listen schnitten besser ab in Gemeinden mit mehr Arbeitern (+0,38 bzw. +0,28), mehr Leuten mit Grundschulabschluss (+0,34 bzw. +0,27), mehr Arbeitslosen (+0,24 bzw. +0,34), mehr Revis-Berechtigten (+0,30 du +0,28). Mir d’Vollek kam auf 0,9 Prozent der Stimmen, déi Konservativ kamen auf 0,6 Prozent.
Die Piraten boten eine liberale bis libertäre Variante an. Mit der gleichen Sozialdemagogie und Skandalisierung wie die rechten Demagogen bemühten sie sich um Wählerstimmen von Opfern des Luxemburger Wirtschaftsmodells. Ihre Wahlergebnisse deckten sich oft mit denjenigen der ADR (+0,43). Sie waren den Ergebnissen der DP und der Grünen entgegengesetzt (–0,45 bzw. –0,51). Die Piraten waren erfolgreicher in Gemeinden mit niedrigem Medianlohn (–0,53), vielen Arbeitern (+0,49), Leuten mit Grundschulabschluss (+0,42), weniger Akademikern (–0,57), mehr Revis-Berechtigten (+0,32). Gegenüber den Kammerwahlen verloren die Piraten 1,7 Prozentpunkte.
Volt und Zesummen-d’Bréck waren zwei genuine Europaparteien. Die internationale Franchise Volt war die liberalere Variante mit mehr Erfolg in Gemeinden, wo viele Akademikerinnen wohnen (+0,29). Die integrationswillige Zesummen-d’Bréck war erfolgreicher in Arbeitergemeinden (+0,39). Gemeinsam kamen sie auf 1,5 Prozent der Stimmen.
Ein Rechtsruck fand nicht statt: Der mit der Arbeiterbewegung verbundene Linksblock von LSAP, Lénk und KPL gewann gegenüber den Kammerwahlen 3,5 Prozentpunkte hinzu. Der rechte Teil des bürgerlichen Blocks mit CSV und Fokus verlor 7,9 Prozentpunkte. Der demagogische Block von ADR, Piraten, Konservativ, Mir d’Vollek (2023 Liberté Fräiheet) stagnierte beinahe (+0,5 Prozentpunkte). Die ADR sendet einen Abgeordneten nach Straßburg. In die Fraktion der italienischen Neufaschistin Giorgia Meloni. Kein Erdrutschsieg, ein zweiter Restsitz.
Die Steueroase wirft genügend Staatseinnahmen zur Fiskalisierung des Sozialstaats ab. So halten die besitzenden Klassen seine Demontage nicht für vordringlich. Anders als in den Nachbarländern sahen Lohnabhängige und Kleinbürger keinen Grund für einen Wähleraufstand. Der Rechtsruck wurde exportiert: Die industrielle Reservearmee wählte jenseits der Grenze. Ein Teil davon Jordan Bardella.