In seiner letzten Rede zur Lage der Nation in dieser Legislaturperiode sprach Premierminister Xavier
Bettel nicht von den Wahlen. Trotzdem warb er
für den Fortbestand der Koalition

Am nämmlechte Boot

Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 14.10.2022

Liebe und Musik Während Premierminister Xavier Bettel (DP) am Dienstagnachmittag in seiner nunmehr neunten Rede zur Lage der Nation den Abgeordneten ein fast schon apokalyptisches Zukunftsbild zeichnete, um sich und die blau-rot-grüne Regierung anschließend als Retter der Nation zu inszenieren, plauderten der zukünftige Staatschef Guillaume und seine Gemahlin Stéphanie anlässlich ihres zehnten Hochzeitstages mit dem Télécran über Liebe, Kinder und Musik. „Unsere Welt“ stehe seit März 2020 „auf dem Kopf“, weil der russische Präsident nach mehr als zwei langen Jahren der Pandemie „die Menschheit mit einem unmenschlichen Krieg in die nächste Krise stürzt“ (S.2), konstatierte Bettel. Doch obwohl der Ukraine-Krieg die Corona-Pandemie als „schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ abgelöst hat, bleibe der Klimawandel „die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Menschheit“ (S.8). Das alles scheint an Erbgroßherzog Guillaume und Erbgroßherzogin Stéphanie vorbeizuziehen. Auch Großherzog Henri hielt es bislang nicht für nötig, sich deshalb an „sein“ Volk zu wenden.

Bettels diesjährige Rede zur Lage der Nation war die erste, die unter der alleinigen Leitung seines (nicht mehr ganz so) neuen Kabinettschefs Jeff Feller verfasst wurde (im letzten Jahr hatte ihm noch dessen Vorgänger Paul Konsbruck geholfen). Im Gegensatz zu früheren Ansprachen war sie rhetorisch geschliffen, bot kaum politische Angriffsfläche. Bettel erklärte den Abgeordneten, die Aufgabe einer Regierung bestehe darin, Verantwortung zu übernehmen. 26 Mal kommt das Wort Verantwortung in der Ansprache vor. „Verantwortung iwwerhuelen“ ist für Bettel offenbar keine politische Selbstverständlichkeit der Exekutive, sondern eine besondere Leistung der Regierung in Krisenzeiten – insbesondere bei der Tripartite. Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) hatte den Spin schon vor drei Wochen in einem Interview mit der Revue begonnen, als er meinte, die Regierung müsse „in dieser schwierigen Phase vernünftig und verantwortlich handeln statt dogmatisch und klientelistisch“, um die Balance zwischen Hilfen für die Wirtschaft und für „die einfachen Leute“ zu finden.

Bettel sagte am Dienstag, die Regierung sei bereit, „heute und auch morgen“ Verantwortung zu übernehmen. Dass der Premierminister mit „morgen“ nicht nur das Jahr 2023, sondern auch die nächste Legislaturperiode meinte, präzisierte DP-Fraktionspräsident Gilles Baum im Anschluss auf Land-Nachfrage: Nichts habe in der Rede darauf hingedeutet, dass diese Koalition nicht weitermachen wolle, wenn sie wiedergewählt wird.

Bettel warb in seiner Ansprache nicht nur für seine eigene Partei, wie ihm danach vorgeworfen wurde. Tatsächlich ging er sehr ausführlich auf die Themen ein, die seit 2020 die öffentliche Debatte bestimmen. Dass die Regierung vor zwei Jahren auf die Coronakrise reagieren musste, die OECD ihr dafür trotz einiger Kritik insgesamt ein gutes Zeugnis ausgestellt hat, sie auf die steigende Inflation vor und nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit drei Tripartite-Verhandlungen innerhalb eines Jahres reagiert hat. Und selbst wenn die Regierung und die Verhandlungsführer der Sozialpartner erst einmal lernen mussten, wie so eine Tripartite eigentlich funktioniert, führte die dritte Runde doch schließlich zum Erfolg.

Am Tripartite-Abschluss war vor allem das Fehlen von klimapolitischen Beschlüssen bemängelt worden. Deshalb kündigte Bettel in seiner Ansprache am Dienstag eine Beschleunigung der Energietransition an. Dass diese Maßnahmen nicht von ihm, sondern vom grünen Energieminister Claude Turmes ausgearbeitet wurden, ist offensichtlich. Und auch die LSAP dürfte damit einverstanden sein, dass der Staat beispielsweise in bestimmten Fällen die Kosten für Fotovoltaikanlagen übernimmt und die Subventionen für Privathaushalte und Energiekooperativen erhöht werden.

Spielraum Insbesondere in Steuerfragen gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten zwischen den Koalitionspartnern, vor allem zwischen DP und LSAP, wie die große Debatte im Juli gezeigt hatte. Während die DP unter Steuerreform die Abschaffung der Steuerklassen und die Einführung der Individualbesteuerung versteht, schwebt der LSAP eine progressivere Einkommenssteuer mit zusätzlichen Gehaltsgruppen vor, bei der höhere Einkommen proportional stärker besteuert werden. Am Dienstag blieb Bettel in dieser Hinsicht relativ vage und zeigte sich offen für „gezielte Steuererleichterungen, die die Mittelschicht erreichen“.

Im Gegenzug sah LSAP-Fraktionspräsident Yves Cruchten am Mittwoch ein, dass eine „Entlastung bei der Lohnsteuer“ wegen der derzeit hohen Haushaltsbelastung nicht realistisch sei und freute sich über die Erhöhung der Steuergutschrift für Alleinerziehende, die Finanzministerin Yuriko Backes (DP) in ihrer Haushaltsrede angekündigt hat. Sobald das Staatsbudget wieder mehr Spielraum biete, müsse jedoch eine große Reform kommen, sagte Cruchten. Auch die DP ist dieser Ansicht, wie ihr Fraktionspräsident Gilles Baum am Mittwoch bekräftigte. Eine „Anpassung der Steuertabelle an die Inflation“, wie sie die Gewerkschaften und auch die CSV fordern, ist das zwar nicht, doch der Vorstoß der LSAP zielt in die gleiche Richtung.

„21 konkrete Vorschläge“ hätten die Sozialisten den Gewerkschaften unterbreitet, teilten LCGB und OGBL in den vergangenen Wochen mit. Bislang hält die LSAP sie noch unter Verschluss, doch auf Nachfrage meinte Cruchten, es seien hauptsächlich die Forderungen, die Dan Kersch schon bei der großen Steuerdebatte im Juli gestellt habe: Vermögenssteuer, Solidaritätssteuer, Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Schon damals herrschte unter den Koalitionspartnern keine Einigkeit, weshalb Grünen-Sprecherin Josée Lorsché das Thema am Dienstag kaum anschnitt und auch Cruchten sich vornehm zurückhielt. Gilles Baum verwarf nur die Vermögenssteuer, die nichts bringe, und die Erbschaftssteuer in direkter Linie, an die seit dem fatalen Vorstoß von Frank Engel eh keine Partei sich mehr heranwagt.

Stattdessen ging Lorsché lieber ausführlich auf die Reformen im Wohnungsbau ein. Vor einem Jahr konnten die Koalit-ionsparteien sich endlich auf eine Reform der Grundsteuer, eine Spekulationsgebühr und eine Leerstandstaxe einigen. Differenzen gibt es aber offenbar noch bei der Reform der Wohnungsbeihilfen. Während der grüne Wohnungsbauminister Henri Kox im Gesetzentwurf vorgesehen hat, staatliche Zuschüsse zur Schaffung von erschwinglichem Wohnraum nur noch an öffentliche und assoziative Bauträger zu verteilen, fordern die DP und überraschenderweise auch die LSAP, dass private Unternehmen ebenfalls davon profitieren sollen, um den Bau von Wohnungen zu beschleunigen. Lorsché verteidigte am Mittwoch die Position des Wohnungsbauministers und warnte davor, private und öffentliche Bauträger „gegeneinander auszuspielen“.

Uneinigkeit herrscht auch im Hinblick auf die im Koalitionsabkommen vereinbarte Schuldengrenze von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Laut DP ist sie unerlässlich, damit die Ratingagenturen Luxemburg weiterhin das AAA verleihen. Auch die CSV hält daran fest. LSAP und Grüne sehen das nicht ganz so eng.

In den meisten anderen wichtigen Fragen scheinen DP, LSAP und Grüne sich jedoch weitgehend einig zu sein. Selbst bei der ambulanten Wende im Gesundheitswesen, die durchaus Potenzial für politische Meinungsverschiedenheiten bietet, sind sie auf einer Linie. Während die CSV sich in den vergangenen Monaten vehement dafür eingesetzt hat, dass Ärzte sich in unabhängigen kommerziellen Gesellschaften zusammentun und sich eigenständig Kernspintomographen und CT-Scanner anschaffen dürfen, wollen LSAP, Grüne und selbst die DP das nur erlauben, wenn es unter der Obhut eines Krankenhauses geschieht.

Spezielle Kontext Ob und inwieweit diese Eintracht zwischen den drei Regierungsparteien sich auch in den Wahlprogrammen niederschlägt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. In seiner Rede zur Lage der Nation vor den Nationalwahlen von 2018 hatte Xavier Bettel noch auf das nahende Ende der Legislaturperiode und den „spezielle Kontext“ verwiesen: „Mir sinn an engem Wahljoer. D’Bewäertung vun der Situatioun, wéi se sech haut duerstellt, steet fir déi meescht dofir och scho ganz oder zum Deel fest“, hieß es gleich zu Beginn von Lëtzebuerg beweegen. Damals fand die Rede noch im April statt, bis zu den Wahlen waren es nur noch sechs Monate. Diesmal sind die Kammerwahlen erst in zwölf Monaten, doch in acht Monaten sind Gemeindewahlen. Keiner der beiden Termine fand Einzug in die diesjährige Ansprache.

Während DP, LSAP und Grüne offensichtlich gemeinsam weidermaache wollen, haben auch die Oppositionsparteien die Bühne genutzt, um sich in der Wahlkampfdebatte zu positionieren. Martine Hansen (CSV) vermisst schon seit Monaten „en Apel fir den Duuscht“ und verlangt wie ihr Ko-Fraktionsvorsitzender Gilles Roth „méi Netto vum Brutto“. Wie sie höhere Staatseinnahmen und Steuererleichterungen für die Mittelschicht miteinander in Einklang bringen will, konnte sie aber bislang nicht erklären. Mit wem die CSV koa-
lieren will, ist ebenfalls unklar, denn die DP kritisierte sie für die verfehlte Wohnungsbaupolitik von 2013 bis 2018, der LSAP warf sie vor, mit „30 Joer sozialistescher staatlecher Gesondheetspolitik“ das Gesundheitswesen heruntergewirtschaftet zu haben, und den Grünen gab sie die Schuld dafür, dass das Benzin zu teuer geworden sei und im Norden nicht genug Busse fahren würden. Allerdings unterließ Hansen diesmal die populistischen rhetorischen Attacken gegen die Grünen und deren „ideologische Verbotspolitik“, die den Diskurs der CSV in den vergangenen Monaten geprägt hatten. Insgesamt würde die CSV vieles ähnlich machen wie die Regierung, nur halt schneller.

„Lëtzebuerg beweegen“ wollte diesmal déi Lénk, die der Regierung politischen Stillstand vorwarf, weil die drei Parteien immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner suchten. Fernand Kartheiser (ADR) schlug in eine ähnliche Kerbe – allerdings von rechts – und warf in seiner Intervention der DP und der LSAP vor, ihre Ideale verraten zu haben. Den Grünen attestierte er das Gegenteil, mit deren Werten kann Kartheiser jedoch überhaupt nichts anfangen. Die ADR hatte schon vor der Rede zur Lage der Nation demonstriert, wie ernst sie das Superwahljahr 2023 nimmt. Ihren halben Exekutivvorstand hatten die vier Abgeordneten zur Demonstration der konventionellen Landwirtschaftsverbände mitgeschleppt, die eine halbe Stunde vor Beginn der neuen Session vor der Kammer den „enormen Drock“ abließen, den sie wegen des neuen Agrargesetzes verspürten. Auch die CSV mischte sich unter die Bauernschaft, die DP-Fraktion kam etwas später, dann die Grünen mit einer Sonnenblume am Revers. Der Premierminister und die Abgeordneten der LSAP tauchten erst auf, als der Vorsitzende der Landwirtschaftskammer, Guy Feyder, seinen Druck schon losgeworden war.

Schließlich die Piraten, die vieles an der Rede des Premierministers gut fanden, aber auch vieles zu kritisieren hatten. Weil sie keine politische Linie haben und außer bei der Digitalisierung noch immer keine Kompetenzen, konnte ihr Abgeordneter Sven Clement wie gewohnt ein Medley der Kritiken und Vorschläge der anderen Parteien zum Besten geben, gespickt mit einem „Nondidjö“, das ihm die gewünschte
Aufmerksamkeit brachte.

Gemeinsames Projekt Im Oktober 2019, bevor die „Poly- und Multikrisen“ die Welt und das kleine Luxemburg erschütterten und die Staatsfinanzen noch (oder wieder) „gesund“ waren, befand die blau-rot-grüne Regierung sich in einer politischen Krise. Felix Braz und François Bausch mussten sich in der „Casier-Debatte“ gegen die Angriffe der CSV verteidigen und die Grünen verloren wegen der Traversini-Affäre nicht nur einen député-maire, sondern schließlich auch Carole Dieschbourg. Im Sommer schied Braz wegen eines Herzinfarkts aus der Regierung aus und der sozialistische Vizepremier Etienne Schneider wollte Ende 2019 sein Leben zurück. Der Premierminister machte sich rar und wirkte lustlos, sodass diverse Beobachter – allen voran der damalige sozialistische Fraktionsvorsitzende Alex Bodry – DP, LSAP und Grünen bescheinigten, für ihre zweite Amtszeit kein „gemeinsames Projekt“ mehr zu haben. Mit dem Beginn der Covid-19-Pandemie änderte sich das schlagartig. Auch die Klimakrise spitzte sich zu, dann der Krieg in der Ukraine. Die Regierung war plötzlich gezwungen, Verantwortung zu übernehmen, das gemeinsame Projekt drängte sich regelrecht auf. Die strukturellen Probleme – hohes Armutsrisiko, steigende soziale Ungleichheit, Abhängigkeit vom Finanzplatz – wurden nicht gelöst und drohen sich künftig noch zu verschlimmern. Auch die Wohnungsnot und das Verkehrsproblem sind trotz der Anstrengungen der Regierung längst noch nicht vom Tisch.

Scheinbar hat der Kampf gegen die Multikrisen DP, LSAP und Grüne aber wieder näher zusammengebracht. In wichtigen Fragen haben die Koalitionspartner sich aufeinander zubewegt und Lösungen aufgezeigt – sei es im Wohnungsbau, bei der Tripartite oder beim Klima- und Umweltschutz. Die CSV, die 2023 unbedingt in die Regierung möchte, hat sich hingegen in dieser Woche nicht gut verkauft. Mit ihrer Rhetorik vom Apel fir den Duuscht, méi Netto vum Brutto und Beem, déi net an den Himmel wuessen, klingt ihre Fraktionsvorsitzende aus dem Norden, als sei sie im letzten Jahrhundert stehen geblieben. Insbesondere in der Klima- und Umweltfrage sind die Christsozialen zu gespalten, um sich als ernstzunehmender Koalitionspartner ins Spiel bringen zu können. Daran wird auch die 32-jährige Elisabeth Margue nichts ändern, die in dieser Woche Viviane Reding im Parlament ersetzt hat. In ihrer Antrittsrede outete die Geschäftsanwältin sich als rechtsliberale Hardlinerin à la Luc Frieden und Laurent Mosar, als sie monierte, die Regierung habe in den letzten Jahren eine Erwartungshaltung und ein Bild vom Staat geschaffen, der für alles zuständig sei und für jeden aufkomme. Vielleicht ist es deshalb auch und vor allem die Koalition, die Xavier Bettel vor Augen hat, wenn er wie am Dienstag zum Zusammenhalt aufruft: „Mir däerfen eis net ee géint deen aneren ausspille loossen. Mir däerfen eis net auserneen dreiwe loossen. Mir sëtzen all am nämmlechte Boot.“ .

Claude P. Muller hat während seiner Tätigkeit als Berater und Hochschullehrer viele der Länder kennengelernt, über die er jetzt schreibt und spricht (cmuller53@pt.lu).

Luc Laboulle
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