LEITARTIKEL

Vorerst noch Ratlosigkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 10.06.2022

Es mag kein Ausdruck staatsmännischer Redekunst gewesen sein, was Premier Xavier Bettel dem ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskij vergangene Woche auf dessen Videoansprache an die Abgeordnetenkammer entgegnete. Dass Bettel sich selber lobte; dass er keine sehr klaren Aussagen zu weiteren Sanktionen der EU gegen Russland machte und nicht zuletzt, dass er Selenskij empfahl, mit Putin zu reden.

Doch das war auch Ausdruck der Ratlosigkeit der Luxemburger Regierung, wie mit der Aussicht umgegangen werden soll, dass der Krieg in der Ukraine länger dauert, sich vielleicht ins nächste Jahr hinzieht. Sie steht mit ihrer Ratlosigkeit nicht allein. Mit Ausnahme der baltischen Staaten und vielleicht noch Polens wünscht kein EU-Land sich einen klaren Sieg der Ukraine gegen den russischen Aggressor, weil niemand sagen kann, was dafür nötig wäre. Die Nato, allen voran die USA, war nicht bereit, an der Seite der Ukraine zur Kriegspartei zu werden. Die EU rief nicht eine regelrechte Kriegswirtschaft aus. Eine, die die ganze EU – ein Land kann das schlecht allein – auf ein paar strategische Ziele einschwört. Die einerseits Militärmaterial produziert, andererseits Wirtschaften und Gesellschaften einer gemeinsam durchzustehenden Notlage unterordnet und zum Beispiel eine konsequente Energie-Solidarität enthielte. Und so schnüren die Staaten je nach Zustand ihrer öffentlichen Finanzen mehr oder weniger gut dotierte Hilfspakete für ihre jeweils eigenen Betriebe und Bevölkerungen. Vor allem die reicheren beten, dass das Wachstum bald wiederkommt.

In Luxemburg kann man das am Hin und Her um das Tripartite-Gesetz beobachten und wie mit dieses Jahr und nächstes Jahr vielleicht noch fällig werdenden Indextranchen umgegangen werden soll. Weil schon diesen Monat eine neue Tranche ausgelöst und ab 1. Juli wirksam werden könnte, wurde jener Teil des Gesetzentwurfs abgetrennt und wird beschleunigt behandelt, der ihre Verschiebung um ein Jahr vorsieht. Weil absolut nicht ausgeschlossen werden kann, dass bis Jahresende der Indexwecker erneut klingelt und das nächstes Jahr so weitergeht, soll dann die Tripartite wieder zusammentreten. So steht es auch im Abkommen von Regierung, UEL, LGCB und CGFP, aber es stand nicht im Gesetzentwurf. Das wurde nun geändert. Doch wenn die Tripartite erneut zusammenkommt, was dann? Noch eine Runde Ausgleich aus der Staatskasse? Und nächstes Jahr eine weitere?

Womöglich ja. Die interessante Frage wird sein, ob der Wahlkampf 2023 ein Index- beziehungsweise Gerechtigkeitswahlkampf wird. Bislang wollte das keine der großen Parteien; deshalb sollte das Tripartite-Gesetz schnell durch die Kammer. Der nächsten Regierung sollte es überlassen bleiben, den Unsinn von womöglich mehreren verschobenen Indextranchen, die auf einen Schlag im April 2024 nachgezahlt würden, wieder außer Kraft zu setzen, oder sich mit UEL und Gewerkschaften auf irgendeinen Ausweg zu verständigen. Nun sieht es so aus, als müsse eine länger anhaltende Krise einkalkuliert werden. Niemand kann wissen, ob das vergleichsweise optimistische „zentrale Szenario“, das der Statec am Dienstag in seiner Konjunkturnote präsentierte und nach dem die Wirtschaft dieses Jahr immerhin um zwei Prozent wüchse, eintritt.

Theoretisch könnte ein Gerechtigkeitswahlkampf eine Chance sein. Praktisch naheliegender aber wäre, dass dann erklärt wird, derzeit gebe es nicht viel zu verteilen. Wegen Corona, wegen des Kriegs in der Ukraine und wegen überhaupt schwer durchschaubarer Probleme in der Weltwirtschaft. Muss zum Krisenausgleich noch ein paar Mal tief in die Staatskasse gegriffen werden, könnte das der Hintergrund für einen Wahlkampf der Slogans von Solidarität und Zusammenstehen sein. Die DP, die eigentlich gerne Geschenke verteilt, könnte das als Führungsstärke ausgeben. Noch ist diese Richtungsentscheidung nicht gefallen. Noch hofft Xavier Bettel, dass Selenskij mit Putin reden wird. Die meisten anderen EU-Regierungschefs hoffen das insgeheim auch.

Peter Feist
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