Shitstorm Martine Hansen musste vor knapp vier Wochen erfahren, was es bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. Die CSV-Fraktionspräsidentin hatte fünf Minister aufgefordert, in die Ausschüsse des Parlaments zu kommen. Damit die Opposition ihre Fragen stellen und ihrer Arbeit als Kontrollorgan gerecht werden kann. Eine Routineaufgabe in einer parlamentarischen Demokratie. Doch Hansen fügte ein kleines Detail hinzu: Die Minister sollten auch „physisch“ präsent sein. Es war dieses Detail, dieses Wort „physisch“ sowie die entsprechende Schlagzeile auf RTL, das die Menschen inmitten der aktuellen Krise aufbrachte. Zuhause eingesperrt an einem vorsommerlichen Wochenende ließen sie am Rechner und am Smartphone ihrem Frust und ihrer Wut freien Lauf. Martine Hansen war zur Zielscheibe geworden, und die CSV stand da wie der letzte Saftladen voller Deppen – unfähig, den Ernst der Lage zu erkennen.
„Das war sicherlich ein Fehler“, übt sich Hansen in Selbstkritik. Sie habe die Sensibilität der Menschen in dieser schweren Zeit verkannt. Das Wochenende nach der Schlagzeile sei allerdings schmerzhaft gewesen. Irgendwann habe sie das Smartphone ausgeschaltet. Sie konnte die Hassmails und Schmähkommentare nicht mehr ertragen. Denn es ging natürlich nicht darum, die Restriktionen zu missachten. Oder die Gefahren der Coronakrise zu leugnen. Sondern sie wollte nur ihrer Arbeit als Oppositionsführerin nachkommen. Aber der Shitstorm hat seine Spuren hinterlassen. Hansen sowie die gesamte Opposition haben sich seither Zurückhaltung auferlegt. „Ich zögere“, so Hansen. Sie will nicht wieder den falschen Ton treffen, nicht erneut die Masse gegen sich aufbringen. Und auf keinen Fall will sie den Eindruck vermitteln, die CSV wolle die Regierung bei der Bekämpfung der Epidemien behindern. Also schweigt sie.
Scheinkonferenzen Doch was, wenn Hansen eigentlich richtig gelegen hat? Ist es nicht die Kernaufgabe der Opposition, die Politik des Landes zu hinterfragen – gerade dann, wenn die Regierung über entsprechende Vollmachten im Ausnahmezustand verfügt? Und warum sollte Premierminister Xavier Bettel (DP) sich weiterhin mit seinen Ministerkollegen an einen Tisch setzen können, aber mit den Abgeordneten nicht? Immerhin ist das Parlament die Erste Gewalt im Staat.
In der Praxis hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die digitalen Ausschüsse eher suboptimal funktionieren. Als „furchtbar“ bezeichnet Marc Baum (Déi Lénk) die Onlinekonferenzen. „Eine Katastrophe“ nennt Fernand Kartheiser (ADR) die Sitzungen. Und selbst DP-Fraktionspräsident Gilles Baum hält sie für keine dauerhafte Lösung. Manche Konferenzen werden mit 40 Mitgliedern geführt. An einen Dialog ist nicht zu denken, er sei froh, wenn er überhaupt zu Wort komme, so Marc Baum. Eine Einschätzung, die ausnahmslos alle befragten Politiker teilen. Oder wie Fernand Kartheiser es ausdrückt: „Die Regierung monopolisiert den Dialog.“
Dabei hat sich das Parlament von Beginn an auf die Seite der Regierung geschlagen. Es hat ohne Widerstand die Zeit der Exekutive akzeptiert. Den Schulterschluss mit der Regierung gesucht, den Ausnahmezustand für eine Maximaldauer von drei Monaten mitsamt den Beschränkungen der Grundrechte mitgetragen. Die Rolle als verlängerter Arm der Exekutive hingenommen. „Wir haben die Opposition in Klammern gesetzt“, so Claude Wiseler. „Aber das war notwendig.“ Um Vertrauen zu schaffen und die Autorität der Regierung nicht zu gefährden.
Die CSV hat sich damit begnügt, dass Premierminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) die Fraktionspräsidenten lediglich einmal pro Woche, im Bureau des Parlaments über den aktuellen Stand in Kenntnis setzen. Und auch Krisenmaßnahmen, die über großherzogliche Verordnungen getroffen werden, teilt die Regierung der Opposition erst im Nachhinein mit. Den Vorschlag der CSV, im Vorfeld informiert zu werden, hat die Koalition abgelehnt.
Zudem gibt es ein sogenanntes gentlemen‘s agreement, dass keine parlamentarischen Anfragen in der Zeit der Krise gestellt werden, um die Regierung und den Staatsapparat nicht zu belasten. Als Marc Baum von Déi Lénk dennoch eine parlamentarische Anfrage stellte, wurde ihm auf Facebook von einem Beamten des Gesundheitsministerium unterstellt, dass seine Anfrage Menschenleben aufs Spiel setzen würde. Kurz: Opposition war zu Beginn der Krise nicht erwünscht, galt als lästig.
Ende der Eintracht Doch mittlerweile ist die erste Phase der Krise vorbei: die Phase des „Whatever it takes“, der großen Eintracht. Selbst wenn Virologen vehement vor einem verfrühten Aufbruch in die Normalität warnen, will die Opposition ihre passive Zuschauerrolle nicht länger hinnehmen. Sie hat zwar noch keine andere Strategie im Kampf gegen das Virus, aber seit Anfang der Woche äußert sie ihr Unbehagen. Es sind vor allem Déi Lénk und ADR, die den monopolisierten Dialog der Regierung sowie das derzeitige Einheitsdenken kritisieren. Denn je länger die Restriktionen und Freiheitsbegrenzungen anhalten, desto schwerer sind sie zu legitimieren. „Die Regierung muss uns klar sagen können, wie sie den Ausnahmezustand beenden will. Wenn sie das nicht kann, dann haben wir ein demokratisches Problem“, so ADR-Abgeordneter Kartheiser. Klare Kritik äußern die Oppositionspolitiker vor allem an der Informationspolitik der Regierung. „Wir wissen eigentlich nicht, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die Exit-Strategie kalkuliert wurde. Wir haben keine Daten erhalten“, so Marc Baum.
Es ist jedoch die CSV, die sich weiterhin mit dieser Rolle schwertut. Über Jahre gehörte es zum Selbstverständnis der Partei, staatstragend mit dem Beamtenstaat und den Berufskammern den politischen Kurs vorzugeben. Die Partei war darauf ausgelegt, Teil der Exekutive zu sein. Und es dauert eine gesamte Legislaturperiode, bis eine Oppositionskultur Früchte trug: Nachhaken, Kritisieren, Alternativen bieten. Das Angebot des nationalen Schulterschlusses birgt demnach Gefahr, erneut in den Modus einer Regierung bis zu verfallen. Exemplarisch sagt Viviane Reding dem Land, dass sie vollends hinter der Regierung stehe. „Luxemburg ist eine Konsensgesellschaft.“ Als sie vor vierzig Jahren in die Chamber einzog, habe man ihr gleich erzählt, dass die Politik eigentlich in der kleinen Chamber, im Bistrot gegenüber gemacht werde. „Populistische Querschüsse“ der Opposition seien demnach unangebracht.
Doch das sehen nicht alle so in der CSV. Für Claude Wiseler ist nun ebenfalls eine zweite Phase angebrochen, wonach es gilt, sich aus dem Korsett des Einheitsdenkens zu lösen. „Wir haben uns zurückgehalten“, so Wiseler, „das heißt aber nicht, dass wir die Politik der Regierung nicht kritisch beobachten.“ Er hält es für unabdingbar, dass die politische Debatte nun wieder Fahrt aufnimmt. Etwa im Bereich der Tracing-Applikationen. Er teilt die Vorbehalte gegen die Überwachungssoftware ähnlich wie die Regierung. Aber wenn Virologen und andere Experten warnen, dass es ein möglicherweise notwendiges Tool aus der Krise sei, könne man sich doch nicht einfach einer Diskussion gegenüber versperren. Oder bei den Ladenöffnungen: Die aktuelle Regelung, wonach nicht der gesamte Einzelhandel bei Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen öffnen kann, widerspreche eigentlich dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Oder auch das geplante Pandemiegesetz. „Was bezweckt die Regierung eigentlich damit?“, so Wiseler. „Sollen damit die Befugnisse des Ausnahmezustands gesetzlich normalisiert werden? Dann leben wir nicht mehr im gleichen Staat.“
Martine Hansen hat mittlerweile ihre Stimme wiedergefunden. Sie teilt die Auffassung von Claude Wiseler, will sich nicht länger hinter der Regierungspolitik verstecken. „Wir haben wieder begonnen, parlamentarische Anfragen zu stellen oder Interpellationen im Parlament zu fordern.“ Und wenn die Kritik an der Regierungspolitik erneut einen Shitstorm auslöst? „Dann muss ich das aushalten. Das ist meine Pflicht als CSV-Fraktionsführerin.“